Zehn Gebote des partizipativen Theaters

12 Juni 2016

Von ANNA R. BURZYNSKA

Im Laufe der Jahre habe ich viele großartige Beispiele partizipativen Theaters gesehen (und erfahren): Zuschauer nahmen die Einladung mit Neugier, Aufgeregtheit, sogar Dankbarkeit an, nahmen an Performances teil, wurden gemeinsam mit den Schauspielern und Performern zu „Schöpfern“ – und fühlten hinterher, dass sich etwas verändert hatte: Sie waren aktiver gewesen, unabhängiger und kreativer, aber auch fürsorglicher, toleranter, verantwortlicher für die anderen. An einer demokratischen partizipativen Performance teilzunehmen, war für sie eine Art Probe dafür, sich in einer demokratischen Gesellschaft zu beteiligen. Das ist besonders wichtig in Ländern wie Polen mit einer totalitären Vergangenheit: Statt beizubringen, still auf den Stühlen zu sitzen, sollte das Theater Zuschauer ermuntern, auf die Bühne zu springen, „Nein“ zu rufen und zu handeln.
Aber leider war ich auch Zeugin vieler gescheiterter Versuche, wirkliche Teilhabe in Performances zu erzeugen. Aufführungen, die Schauspieler enttäuscht und verärgert und Zuschauer beschämt, verunsichert, aber auch unterschätzt, benutzt, sogar gedemütigt zurückließen. Die folgenden „Zehn Gebote“ sind ein Versuch, einige der häufigsten Beschwerden, Einwände und Forderungen als Zuschauerin zu sammeln – banal und einfach, aber leider zu oft ignoriert.



1. Sei sicher, dass du es wirklich willst

Partizipatives Theater ist nicht jedermanns Sache. Die Vorbereitung einer auf wirklichem Dialog basierenden Aufführung bedarf weitaus mehr Erfahrung, Talent, Intelligenz, Sensibilität und Arbeit als die Vorbereitung einer Aufführung, bei der das Verhältnis zwischen Ausführenden und Zuschauenden einer Peep-Show gleicht: die SchauspielerInnen tun so, als würden sie nicht gesehen. Und die ZuschauerInnen tun so, als würden sie nicht gaffen. Mehr noch: Es gibt kaum etwas Beschämenderes als eine partizipativ gedachte Aufführung, deren MacherInnen sich während der Aufführung eines anderen besinnen und entmutigt dem Publikum die Rechte wieder wegnehmen, die sie ihm vorher zugestanden haben.

2. Lerne dein Publikum kennen

Anders als schönklingende Plattitüden über eine universelle Theatersprache glauben machen wollen, gibt es sehr viele, sehr unterschiedliche Theatersprachen. Und diese Unterschiede dürfen nicht bagatellisiert werden (so wie es auf internationalen, interdisziplinären Festivals VeranstalterInnen wie ZuschauerInnen immer häufiger tun). Auch eine komplex gedachte partizipative Aufführung verlangt, wenn sie in einen anderen kulturellen Kontext verschoben wird,entsprechende Veränderungen. Es bedarf also einer eingehenden Analyse der Gebräuche, des Wissens, der Gewohnheiten, Erwartungen, aber auch des üblichen Verhaltens des Publikums, mit dem man zum ersten Mal in Berührung kommt. Das beginnt mit dem Wissen um grundlegende demografische Gegebenheiten: Wer kommt üblicherweise im jeweiligen Stadtteil, der jeweiligen Stadt, Region, dem jeweiligen Land ins Theater? Jugendliche, Erwachsene, Rentner? Bildungsbürgertum oder aufstrebendes Prekariat? Was sind ihre kulturellen Kompetenzen? Gibt es ausreichend Fremdsprachenkenntnisse oder bedarf es Übersetzungen? Dazu kommen die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen: Welche Rolle spielt Religion? Gibt es spezifische Tabus – und wenn ja, wie können sie diskutiert, infrage gestellt, angegriffen werden? Welche Vorstellungen von Intimität gibt es? Ist körperlicher Kontakt selbstverständlich oder vorsichtig einzusetzen? Ist öffentliche Meinungsäußerung üblich? Und schließlich die Analyse der Theatertraditionen: Welchen Status haben Theater und Schauspiel? Gelten die Protagonisten als Fachleute, als intellektuelle oder gar moralische Autoritäten oder eher als unseriös? Wird die Möglichkeit zur Empathie, zum Einfühlen erwartet oder eher Distanz und Diskurs? Neigen die Zuschauer zum „Ungehorsam“, sei es in Form spontaner Einmischung in die Aufführung oder als protestierender Abgang? Oder ist ihnen eine gehorsame Achtung gegenüber Kunst anerzogen, unabhängig von ihrer persönlichen Bewertung? Wie äußert das Publikum Zustimmung oder Missbilligung?

3. Sei auf der Höhe der Zeit

Es ist notwendig, sozialpolitisch auf dem Laufenden zu sein. Wenn ein partizipatives Projekt auf aktive Reaktionen stoßen soll, muss es um die gegenwärtige Lebenssituation des Publikums wissen. Aktuelle diskussionswürdige Ereignisse sind ein guter Nährboden für Partizipation.

4. Wähle einen Raum, der Begegnungen ermöglicht

Es ist schwer, sich zu bewegen, wenn erhöhte Bühne, Orchestergraben und andere Fährnisse den Weg versperren, oder Entfernung und schlechte Akustik ein Gespräch ohne Mikrophone unmöglich machen. Oft hilft es, wenn Zuschauer während der Aufführung ein und aus gehen können.

5. Verwische die Grenzen zwischen denen oben und denen unten

Die Kunst des partizipativen Theaters beruht darauf, die Performer „nach unten“ und die Zuschauer „nach oben“ zu ziehen. Im traditionellen Theater wird die Beteiligung weniger durch das Prestige der Bühne als Ort, der für Könner reserviert ist, blockiert als durch gegenseitige Hassliebe, durch ein Spiel der Ressentiments, bei dem die jeweilige Seite auf die andere herabblickt. Die Zuschauer bemitleiden die Komödianten, die ihre Haut zu Markte tragen. Und die Schauspieler bemitleiden die Zuschauer, die sich ohne Begeisterung an der Nase herumführen lassen. Es geht also darum, beide Seiten anzugleichen. Partizipation im Theater ist eine Frage der Verantwortung. Sei bereit, Unwissen, Unfähigkeit, Schwäche zuzugeben. Aber auch einen Teil der Verantwortung an die Zuschauer abzutreten. Das bedeutet, dass das Risiko, aber auch der Erfolg geteilt werden. Ein nicht-hierarchisches Arbeitsmodell als Modell demokratischen, sozialen Handelns.

6. Investiere Zeit, einander kennenzulernen

Das Vertrauen des Publikums wird stückweise gewonnen, es ist nicht einfach gegeben, auch weil manches Mitmachtheater schon Vertrauen verspielt hat. Am besten funktioniert das, wenn ein Projekt mit einer Art Aufwärmphase beginnt, in der die Sprache der Aufführung eingeführt und die Spielregeln der Kommunikation und Mitwirkung vorgestellt werden. Der Übergang von der individuellen Position zu einer des kollektiven Handelns ist kein einfacher.

7. Formuliere klare Regeln

Klare Abmachungen sind notwendig. Die Regeln der Beteiligung müssen von Anfang an klar sein. So können die Zuschauer ihre Unsicherheit überwinden und wissen, welche Art der Interaktion erlaubt, welche unerwünscht ist oder gar die Aufführung stört. Bei einer Einladung zur Beteiligung müssen die Künstler grundsätzlich mit jeder Form von Reaktion rechnen und sollten in der Lage sein, sie zu beantworten – auch wenn die Dinge beispielsweise durch Überbeteiligung außer Kontrolle geraten. Partizipation darf nicht die im Repertoire-Theater häufige nur scheinbare Offenheit sein, die jedes wirkliche Mitmachen sofort durch Unterbinden beantwortet, wenn die Zuschauer nicht in der Lage sind, den Ball auf eine im Skript vorgesehene Weise zurückzuspielen.

8. Akzeptiere auch Ablehnung

Wenn sich jemand beim Mitmachen nicht wohl fühlt, zwinge ihn nicht. Das Schlafen während der Aufführung gehört zum Recht des Zuschauers auf individuelle Rezeption.

9. Verabschiede dich langsam

Lass zu, wenn die Zuschauer das Spiel fortsetzen wollen. Sei auf Fragen, Kommentare und Reflexionen vorbereitet. Und ziehe daraus Schlussfolgerung für weitere Aufführungen – was kann verbessert, verstärkt, hinzugefügt werden?

10. Lasse die Zuschauer etwas mit nach Hause nehmen

Ziel von Partizipation ist es, aktive Subjekte zu ermöglichen, die dank buchstäblich körperlicher oder auch lediglich symbolischer Mitwirkung am Kunstwerk den Mut schöpfen, der nötig ist, das soziale Leben zu beeinflussen. Es ist also wichtig, dass die Aufführung kein geschlossenes Ganzes, sondern eher ein Prolog zum Handeln, eine Übung im Verändern, ein Probedurchlauf realer Aktivität ist. Sowohl das Theaterpublikum wie die Rezipienten anderer Künste sollten – wie Jacques Rancière postulierte – „Geschichtenerzähler“ und „Übertragende“ sein, die den Sinn der Kunstwerke mitgestalten und sie auf die eigene Realität ausweiten.
Halte den Zuschauer nicht an der Hand. Das Wort „Emanzipation“ bedeutet nicht mehr und nicht weniger als: loslassen.

Anna R. Burzyńska ist Redakteurin der polnischen Theatermonatsschrift Didaskalia und Dozentin am Lehrstuhl für Drama und Theater an der Krakauer Jagiellonen-Universität.

Zurück