Start Cooking… Recipe Will Follow

Unübersichtlich ist noch ein Euphemismus. Politisch, sozial, egal wohin man schaut: Die Lage ist nicht gut. Was aber noch schlimmer ist: Es fällt schwer, Konsequenzen daraus zu ziehen. Handeln scheint nötig – aber wie? Was tun? Stillstehen, weil jedes Handeln alles noch schlimmer macht, wie einige politische Modetheorien nahelegen? Den Kapitalismus beschleunigen, um ihn mit den eigenen Waffen zu schlagen? Die Grenzen dicht, die Herzen zu? Oder Traditionen wie Internationalität und Solidarität verteidigen?

Die Verhältnisse spitzen sich zu, die diversen Krisen werden zum Dauerzustand, doch die Sicht auf Alternativen ist vernebelt. In dieser Landschaft befindet sich auch das freie Theater auf der Suche danach, wie Kunst heute politisch sein kann. Was wäre dafür die dem Theater adäquate Form? Zwischen Engagement und Autonomie (die als Forderung ein überraschendes Comeback erlebt) positionieren sich KünstlerInnen derzeit neu und finden ihr eigenes Maß zwischen dem Zeitgefühl der Theorie auf der einen und dem des Aktivismus auf der anderen Seite. Denn während das erstere die Notwendigkeit des Zögerns, des Denkens, des Abwägens einfordert, mahnt das andere zu einem Handeln, für das es sonst zu spät sein könnte.

Das Theater ist, wie die gesamte Gesellschaft, auf der Suche nach Standpunkten, von denen aus wir auf die Gegenwart blicken könnten. Wo so etwas wie ein kurzes Innehalten zumindest momentweise möglich wäre. Von wo aus wir den nächsten Schritt planen könnten.

Die zum diesjährigen Impulse Theater Festival eingeladenen Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum betrachten die Gegenwart, um sich einen Reim auf sie zu machen, mal dokumentarisch, mal analytisch, mal konzeptig klar, mal poetisch imaginierend:

Gintersdorfer/Klaßen, die auch in diesem Jahr wieder mit großem Ensemble aus ivorischen und deutschen PerformerInnen, TänzerInnen, MusikerInnen vertreten sind, untersuchen anhand der Figuren deutscher Botschafter in Westafrika, wie koloniale Strukturen bis heute nachwirken – eine Frage, die auf ganz andere Weise auch die jungen Theatermacher Oliver Zahn und Julian Warner in „Situation mit Doppelgänger“ stellen.
Der Krieg im Nahen Osten, der uns immer näher kommt, ist Gegenstand zweier weiterer Einladungen: Während die österreichische Choreographin Christine Gaigg gemeinsam mit dem Komponisten Klaus Schedl in „untitled (look, look, come closer)“ vor allem unsere mediale Wahrnehmung des Krieges untersucht, hat die COSTA COMPAGNIE für „Conversion / Nach Afghanistan“ Wort, Ton und Bild am Hindukusch gesammelt,mit denen sie den Krieg, seine Auswirkungen und Verwicklungen an die Zuschauer weitergibt.
Rimini Protokoll-Regisseur Daniel Wetzel setzt der sehr lauten Diskussion um Geflüchtete eine sehr ruhige, berührende und zugleich spielerische Arbeit entgegen: Bei „Evros Walk Water“ werden wir von Zuschauenden zu Stellvertretenden der abwesenden, geflüchteten, in Griechenland gestrandeten Kinder. Der Fluss Evros – als eine der Grenzen der Festung Europa – steht auch im Mittelpunkt von andcompany&Co.s Hörspiel „Schlepperoper“, das in Kooperation mit dem WDR während des Festivals gesendet wird. Auch Dario Azzellini und der österreichische Aktivist und Filmemacher Oliver Ressler bewegen sich mit ihrer Filminstallation „Occupy, Resist, Produce“ in krisenhafte Zonen Europas, wenn sie anhand stillgelegter, von Arbeitern besetzter Fabriken in Mailand, Rom und Thessaloniki zeigen, wie inmitten der ökonomischen Krise direkte Demokratie und kollektive Entscheidungsfindung geprobt werden kann.

Unterdessen wird Religion – sei es durch radikale islamische Positionen (oder die Angst davor), sei es durch evangelikalen Fundamentalismus oder andere Formen politischer Instrumentalisierung – immer wirkmächtiger. Boris Nikitin wählt in „Martin Luther Propagandastück“ einen Gottesdienst für die aufgeklärte weiße Mittelschicht als Medium für Manipulation, Glauben und die Suche nach der eigenen Handlungsfreiheit.
Auch das vermeintlich Private bleibt immer politisch: Sexualität und Körper sind stets auch geschichtliche, soziale Konstruktionen und eine Frage der Macht, wie She She Pop in „50 Grades of Shame“ gemeinsam mit SchauspielerInnen der Münchner Kammerspiele anschaulich zeigen. In „Noise“, einer Arbeit von Sebastian Nübling und dem jungen theater basel, stehen ebenfalls Körper im Mittelpunkt: Für die Jugendlichen auf der Bühne ist politische Bewegung immer auch körperliche Bewegung – energetisch, schnell und laut. Lassen sich der Neoliberalismus und seine verlogenen Freiheitsversprechen so beschleunigen, dass sie sich selbst mit Karacho gegen die Wand fahren?

So tritt plötzlich die Zukunft durch die Hintertür herein, zumindest als Denkfigur, um der Gegenwart eine Außenposition gegenüberzustellen, von der aus sie vielleicht verstehbarer wird. Mit ihr kommen grundlegende Fragen auf: Wer werden wir gewesen sein? Was werden wir getan haben? Im Rückblick wird klar geworden sein, was wir gerade erleben. Nur eine Episode oder eine Zeitenwende, den Vorabend zur Katastrophe oder zur Rettung?

In eine solche Zukunft begeben sich gleich zwei diesjährige Einladungen – mit dem Ziel, von ihr aus auf das Heute zu schauen: Das Nature Theater of Oklahoma imaginiert – in einer der drei internationalen Auftragswerke, die Impulse in jeder Ausgabe in den drei Partnerstädten initiiert – für sein Live-Filmprojekt „Germany Year 2071“ ein Deutschland, das kurz vor dem Zusammenbruch steht, in dem Revolutionen kommen und gehen, in dem Außerirdische erst willkommen geheißen und dann verwurstet werden. Dabei wird für die New Yorker die Kamera zum Mittel, alle Zuschauer konsequent miteinzubeziehen: Jeder wird Teil des Theaters wie auch Teil des Films, der dann im kommenden Jahr bei Impulse 2017 uraufgeführt werden wird.

Während das Nature Theater of Oklahoma die reale, modernistische Kulisse Kölns inszeniert, sucht der Theatermacher Ariel Efraim Ashbel die Zukunft im Vorstellungsraum der Black Box: eine geometrische Landschaft in Schwarz, zusammengesetzt aus Objekten, Menschen, Sounds, Bewegung, in der Zukunftsvisionen vergangener Zeiten widerklingen und Konzepte von Rasse, Identität, kultureller Herrschaft in Frage gestellt werden.

Dazu kommen auch in diesem Jahr künstlerische Arbeiten, die sich ganz unmittelbar in gesellschaftliche und politische Angelegenheiten einmischen. Im Mittelpunkt steht dabei die Silent University Ruhr, eine alternative Universität für geflüchtete AkademikerInnen, deren Wissen zum Schweigen gebracht wurde. Die im vergangenen Jahr ins Leben gerufene Initiative des kurdischen Künstlers Ahmet Öğüt, ist diesmal eingebettet in eine internationale Sommerakademie: Unter dem Titel „Learning Plays“ kommen in Mülheim vier künstlerinitiierte Schulen, Akademien, Theorieplattformen erstmals zusammen, um sich über ihre Methodiken auszutauschen: Das Performing Arts Forum – PAF aus St. Erme, die School of Engaged Art des St. Petersburger Kollektivs Chto Delat, die Vierte Welt aus Berlin und die Silent Universitys aus London, Stockholm, Hamburg, Athen, Amman und Mülheim. Abschließend wird der Kreis im Rahmen eines performativen Symposiums erweitert, um die Frage nach anderen, radikalen Formen von Bildung und dissidenter Teilhabe zu stellen.

Dass Kunst oft den unmittelbaren Kontakt mit der Realpolitik vermeidet, nimmt die israelische Choreographin Dana Yahalomi von Public Movement zum Anlass, ein sehr konkretes Treffen von Kunst und Politik zu initiieren. „Macht Kunst Politik!“ lädt einflussreiche PolitikerInnen aller in NRW relevanten Parteien ins Düsseldorfer Rathaus ein, kulturpolitisch Stellung zu beziehen und nutzt dabei die strukturelle Ähnlichkeit von Kunst und Politik, Bühne und Plenarsaal.

Die Arbeiten, die Impulse in diesem Jahr zeigt, sind – so unterschiedlich sie sind, so sehr sie sich teils gar widersprechen – Teil einer Suchbewegung. Denn vielleicht ist es genau das, was wir gerade künstlerisch, politisch tun können: nicht stehenbleiben, nicht resignieren, nicht larmoyant besitzstandswahrend auf Autonomie beharren, sondern künstlerisch und politisch handeln, auch wenn unklar ist, wo wir damit landen werden. Losgehen, auch wenn wir nicht genau wissen, wo wir sind. Oder vielleicht besser: Loskochen – wie Brian Eno unlängst als politische Losung ausgegeben hat, die sowohl sofortiges Handeln als auch fortwährendes Weiterentwickeln einschließt: „Start cooking … Recipe will follow.“

Das ist vielleicht eine bescheidene Parole – aber auch eine optimistische. Nicht nur, weil sie gegen die verbreitete Kultur der Angst (ein Hauptargument rechter PopulistInnen) die Hoffnung setzt, dass das Rezept noch kommen wird. Sondern weil wir, wenn wir mit dem Klagen aufhören, es beim Kochen selber finden werden.

Impulse 2016 ist auf zahlreiche Orte in Düsseldorf verteilt und hat Satelliten in Köln und Mülheim. Wir laden Sie herzlich ein, im Festivalzentrum – einem neuen Raum der FFT Kammerspiele, der vom Düsseldorfer / Kölner Kreativkollektiv Labor Fou gestaltet wird – und bei den zahlreichen künstlerischen Arbeiten mit zu diskutieren, mit zu denken, mit zu kochen, mit zu handeln. Begleiten Sie alte Bekannte und Newcomer des freien Theaters auf der Suche danach, in welcher Welt wir leben wollen – und was wir dafür tun müssen.