Fähigkeiten erkennen

12 Juni 2015

Der Berliner Theaterstreit um die Volksbühne hat vorgeführt, wie groß die Differenzen zwischen Freier Szene und Stadttheater wieder sind. Der Innovationsstau in den großen Häusern und die Unlust der Freien führt zu Parallelgesellschaften, die für beide Seiten gefährlich sind. Tobi Müller findet: Wir müssen reden, zum Beispiel über den Begriff der Fähigkeit.

In jeder Sehbiografie gibt es Theaterabende, die den Blick verschieben. Für immer. Ein Ereignis, das einen aus der Bahn wirft. Oft reichen kurze Szenen, Details, ein Auftritt eines Schauspielers, einer Schauspielerin. Die Idee bleibt im Moment unverstanden und entfaltet ihre Wirkung erst mit der Zeit. Ich erinnere mich an das Stottern von Einar Schleef in seiner “Puntila”-Inszenierung und an den Chor als Schallereignis, Berliner Ensemble, 1996. Heute ist das eine theaterhistorisch abgesicherter Abend. Ich weiß, dass ich da war, aber der Legendenstatus dieser Arbeit könnte mein Erlebnis nachträglich überhöht haben. Ich erinnere mich auch an Schweizer Kleinkunst, über die ich meine ersten theatertheoretischen Lektüren gestülpt habe. Zum Beispiel die Lufthunde, ein Clownduo mit einer Liebe für das absurde Theater; oder die Acapickels, vier Frauen in Spießerkostümen, die Blockflöte spielten, mäßig Dialekte imitierten und auch nicht so gut sangen, aber eine schöne queere Weiblichkeit performten. Es sind alles Beispiele, die meinen Horizont herausforderten und mich dabei in ihren Bann schlugen. Ich begriff nicht, was mich ergriff.

Keiner meiner ästhetischen Wendemomente fand im Freien Theater statt. Erleuchtet, oder was ich dafür hielt, wurde ich auf der Kleinkunstbühne, in der Szenebar und in den großen Häusern in Berlin, Hamburg und Zürich. Das liegt nicht daran, dass ich den Freien Gruppen nichts zutraute oder sie sogar mied. Eher umgekehrt: Sie mieden mich. Anfang und Mitte der Neunzigerjahre waren wir im deutschsprachigen Raum weit entfernt von der heutigen Breite der Szene, die Produktionshäuser entstanden erst allmählich. Berlin war zu beiden Seiten der Mauer Provinz, auch bis weit in die Neunzigerjahre hinein strahlte kaum Freies Theater über die Stadt hinaus. Und der interessante Teil der Freien Szene meiner Heimatstadt Zürich verstand sich nicht in erster Linie als Alternative zum Stadttheater. Gruppen wie Klara aus Basel, die Off-Off-Bühne von Igor Bauersima oder später die ersten Produktionen von Maß&Fieber des Ehepaares Brigitte und Niklaus Helbling: Sie wollten nicht prinzipiell ein anderes, sondern bloß ein viel besseres Stadttheater machen. Man könnte diese Strategie kritische Affirmation nennen, oder: Reform. Selbst das lose Kollektiv 400asa rund um Samuel Schwarz drängte später in die Stadttheater, etwa in Basel und Bochum.
Diese Gruppen oder Produktionszusammenhänge waren Teil desselben Systems. Manche kamen sogar vom Stadttheater wie die Helblings, andere gingen später dahin wie der Klara-Regisseur Christoph Frick und Autor/Regisseur Igor Bauersima. Was sie einte: ein Fremdeln mit dem Theater. Und sie alle brachten Fähigkeiten mit in ihre Kunst, die das Stadttheater in der Regel nicht erkennt oder als theaterfremd einstuft. Bauersima war Architekt, Frick kam aus einer Clownschule, die Helblings waren zwar klassische Literaturwissenschaftler, aber ihr Glaube an die Gleichheit von High und Low war groß, noch größer war nur ihre Comic-Kompetenz.
Ich will nicht Zürich zur Urszene einer Entwicklung verklären, die Beispiele sind zufällig. Es geht nur um etwas Anschauung, um auf historische Zyklen der Annäherung zwischen den vollfinanzierten Theaterhäusern und freieren Produktionsweisen hinzuweisen. Es geht um die Voraussetzungen für Beweglichkeit, Innovation und Austausch. Um ein Klima, das künstlerische Veränderungen auslösen kann. Als die Nullerjahre in die Gänge kamen, war diese Zeit der gegenseitigen Offenheit vorbei: Die Theater zogen die Mauern wieder hoch gegenüber anderen Produktionsformen, die Rhetorik der Öffnung verlagerte sich hin zu “anderen Stadtteilen” und “anderen Publikumsschichten”. Mit Drittmitteln von der Bundeskulturstiftung sowie weiteren staatlichen und auch privaten Akteuren wurde der postmigrantische Laie entdeckt – als Thema, Publikum und als Performer. Am Kern des ästhetischen Programms hat das nichts verändert, im Gegenteil: Gerade die oft fremdbezahlten Stadtteilprogramme oder auch Bürgerbühnen dienen als Feigenblatt, das Hauptprogramm nicht verändern zu müssen. Das Stadttheater reagiert auf seine Legitimationskrise in der Öffentlichkeit, ausgelöst durch die den Kanon zersetzende Wirkung der Digitalisierung, mit Wachstum an den Rändern und mit Innovationsstau in der Mitte. Und soweit ich es überblicke, hat sich das jüngere Freie Theater fast ganz abgewandt vom Stadttheater.
Das hat dazu geführt, dass wir auch im Theater zunehmend in Parallelgesellschaften leben. Wie zum Beweis hat der jüngste Theaterstreit all jene aus dem Schlaf geweckt, die jahrelang von offenen Grenzen redeten. Denn die bissige Debatte über Chris Dercon als designierten Nachfolger von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne ließ nichts aus, um Gräben zwischen literarisch grundierter Großkunst und Performance-Pillepalle zu beschwören, wie sie in den Siebziger- und Achtzigerjahren schon einmal das Denken bestimmte. Dünkel aus Beton. Man wünscht sich einen neuen Mauerfall herbei. Denn da draußen tobt ein kalter Kunstkrieg. Zumindest legen das Sätze in Tageszeitungen nahe, wie die Stadt brauche nicht „noch eine weitere Bühne, auf der einbeinige albanische Transgender-Performer die Verbrechen der Deutschen im Hererokrieg nachtanzen.“ So imaginierte sich der “Welt”-Autor das Programm, das der Belgier Chris Dercon ab 2017 an der Volksbühne machen werde. Ein Programm, das ästhetisch näher beim unterfinanzierten Produktionshaus Theater Hebbel am Ufer liegt oder auch bei Arbeiten, die man während zehn Tagen im Jahr am Festival “Foreign Affairs” in den Berliner Festspielen sehen kann.

Es gibt in Berlin fünf vollsubventionierte Sprechtheater, die alle mehr oder weniger dasselbe Modell haben: Festes Ensemble (dessen Zahl schrumpft), eine Mischung aus alten und neuen Stücken, regiezentriertes Theater, kaum Projekte auf den großen Bühnen, kaum Berührungspunkte zu anderen Künsten. Das Modell ist extrem dominant, und trotzdem wird behauptet, dass eine minimale Akzentverschiebung von Chris Dercon das Ende des Modells an sich einläute. So reagiert eine Mehrheitsgesellschaft, wenn die ersten Einwanderer in der sozialen Hierarchie aufsteigen. Es spricht nicht für das Selbstvertrauen der deutschen Stadttheater und ihrer Schauspielkritik, einen Mann mit den Qualifikationen eines Chris Dercon panisch anzubellen. Die Debatte war ein Ventil, offenbar haben beide Seiten ihre Differenzen zu lange überspielt – aus Scheinsolidarität.
Beim Einwanderer vom Typ Dercon geht es nicht um die Nationalität, das deutsche Stadttheater verträgt seit einiger Zeit die eine oder andere Spur einer Fremdsprache. Wichtiger ist die Angst vor einem migrierenden Theaterbegriff. Alles, was der Betrieb an den Rändern duldet, könnte in der Volksbühne ins Zentrum der Aufmerksamkeit wandern. Abgewehrt wurde das Phantom des Kunstmigranten, indem man seine Kompetenz anzweifelte.
Der Tenor vor und auch heute noch hinter den Kulissen: Dercon hat nicht die Fähigkeiten zum Intendanten, als Museumsmann versteht er zu wenig vom Theater. Dass er ja gerade geholt wurde, um einmal nicht ganz genau dasselbe Theater zu machen wie alle andern, ging unter in der Diskussion, die täglich an Niveau verlor. In Netzwerken zu denken und verschiedene Künste zusammenzuführen widerspreche der künstlerischen Autonomie des Theaters, dem letzten Bollwerk gegen den Markt, für den Dercon auch noch die Schießbudenfigur des “neoliberalen Eventmanagers” abgeben musste.
Im Prinzip führt dieser Vorwurf die Argumentationslinie fort, die seit einiger Zeit ins Feld geführt wird: Das Freie Theater, so etwa Thomas Ostermeier, der Theoretiker Bernd Stegemann und auch einige Theaterkritiker, reproduziere neoliberale Ideologie. Gerade das projektzentrierte Arbeiten ohne Kontinuität, das seine Mittel stets von neuem auf dem Markt auftreiben muss, entspreche dem permanenten Wandel des Neuen Kapitalismus, der die Verhältnisse immer rascher revolutioniere, um sie besser auszubeuten. Das Freie Theater ist dann, mit andern Worten, der Alptraum Adornos. Gerade Bernd Stegemann hat einen sehr klaren Blick auf die Geschichte der Avantgarden und den Platz, den das Theater der Gegenwart darin einnimmt. Sein neues Buch, „Lob des Realismus“, ist eine kluge Diskussionsgrundlage, um das Niveau nach dem Limbo des Theaterstreits deutlich anzuheben. Aber auch der smarteste Hegelianer kommt nicht an den konkreten Verhältnissen vorbei, die da gerade sind: Das Freie Theater, das viel schwerer als Einheit zu beschreiben ist als etwa das Stadttheatersystem, hat seine prekäre finanzielle Lage und seinen Status des permanenten Wandels nicht selbst gewählt. Gerade Chris Dercon, den auch Stegemann als postmodernen Vernetzer im Gegensatz zum Künstler diskreditiert, ist der Mann, der den Besten unter den Projektemachern bessere Löhne und längerfristiges Arbeiten garantieren wird, wenn man zum ersten Mal in Deutschland ein vollfinanziertes Haus dieser Größe umwidmet. Leistet Dercons Kunst dann auch unter den neuen Bedingungen der Ausbeutung der Verhältnisse Vorschub?

Hier autonome Geniekunst, dort kapitalistischer Vernetzungskram: wie gesagt, im Theater ist Kalter Krieg, jetzt als Farce des Betriebs. Mit dem Unterschied, dass nur eine Seite rhetorisch aufrüstet. Dercon nämlich blieb ruhig und verstörte insbesondere die Berliner Theaterszene mit etwas, worauf sie nicht vorbereitet sein konnte: Charme. Und ich befürchte, die Freie Szene hört gar nicht mehr hin.
Der Zeitpunkt könnte aber als Chance begriffen werden, über Theater nachzudenken jenseits von Verteilungskämpfen und Rückzugsgefechten. Darüber zu reden, was ein guter Intendant ist, welches seine Fähigkeiten sind oder sein müssen. Denn auch da markierte die Debatte einen Backlash: Intendant war plötzlich wieder einer, der selbst Regie führt. Castorf war und ist ein regieführender Theaterleiter, aber viele wichtige Intendanten der letzten 30 Jahren waren es nicht, darunter gibt es so unterschiedliche Beispiele wie Frank Baumbauer, Matthias Lilienthal oder Ulrich Khuon. Haben Sie nicht alle genau das gemacht im Theater: Leute vernetzt? Und wie viele Sonntagsreden im Theater beginnen zuverlässig mit der Beschwörung der kollektiven Kunst?
Und natürlich müsste man auch darüber reden, was ein guter Schauspieler ist oder was eine gute Performerin, damit fängt es ja schon an. Um die Infrastruktur – ich meine ausdrücklich nicht das System – des deutschen Theaters zu retten, braucht es nicht einfach nur mehr Diversität punkto Herkunft, sondern auch hinsichtlich der Fähigkeiten seiner Mitgestalter. Ein Ensemble kann auch aus Tänzern, Filmerinnen, Literatinnen, Musikern und auch Schauspielern bestehen. Oder Laien. Niemand hat das in den Neunzigern besser geschafft als die Volksbühne unter Castorf.

Heute bin ich mir sicher, dass die Volksbühne auch deshalb diesen Status hat, weil sie neu definiert hat, was man im Theater alles können darf. Es gibt dort Schauspieler, viele davon Gäste, die nirgends anders richtig Fuß fassen, weil sie dann doch zu wenig kompatibel sind mit dem Betrieb, der sie nun als ihre Spitze feiert. Besonders im ersten Jahrzehnt der Intendanz Castorf sah man eine bis heute seltene Mischung aus alten, älteren und jungen Leuten auf der Bühne. Und wenn jemand neu verhandelt hat, was ein Schauspieler ist, dann Christoph Schlingensief mit seinen Behinderten und Kranken. Auch damals hatten viele geschrieben, das sei kein Theater. Es waren mitunter jene, die sein Spätwerk vergöttern und die Volksbühne nun zum Mausoleum machen möchten.
Aber es ist nicht nur der Fehler der verängstigten Stadttheater, dass sie seit mindestens einem Jahrzehnt wenig Impulse mehr senden, kaum Innovation zulassen, sondern sich darauf beschränken, die Farbe der Regiehandschriften zu variieren. Um mehr andere, offenere und intensivere Resultate in deutschen Theatern zu sehen, muss auch die Freie Szene mehr Beute machen wollen und sich auf das Spiel mit dem Apparat einlassen. Warum wollen so viele Gruppen immer weiter selbst auf der Bühne performen, wenn sie die Fähigkeit erworben haben, große Bühnen zu füllen? Warum mischt man nicht konventionelle Schauspieler mit, vom Stadttheater aus gesehen: unkonventionellen Arbeitsmethoden und Nicht-Schauspielern? Denn ich weiß, dass sich einige Intendanten schon selbst langweilen und mehr Diversität an ihren Häusern wünschen. Nur scheint der Betrieb auf beiden Seiten gerade zu verlernen, wie man sie herstellt.
Gibt es eigentlich einen Innovationsschub im Theater, der nicht durch ungewöhnliche Konstellationen, Mischformen inkongruenter Fähigkeiten ermöglicht oder beschleunigt wurde? Was ist mit vielen Schauspielern der Weimarer Republik, die seltsame Akzente hatten oder vom Kabarett kamen? Im Vergleich zu vielen Schauspielabgängern heute würden sie als Dilettanten gelten. Und was ist mit dem am britischen Boulevard geschulten Peter Zadek, der in das Bildungstheaterdeutschland einfiel? Erinnert sich noch jemand an die bösen Kritiken, die sein Schauspieler Ulrich Wildgruber bekam, weil er angeblich nicht sprechen könne, sondern bestenfalls nuschle? Oder an die ersten Marthaler-Erlebnisse, verpeilte Liederabende mit Genitalhumor in Wiederholungen? Es waren oder sind alles gut vernetzte, kulturell wie handwerklich herumgekommene Künstler, die nicht ganz alles im (west-)deutschen Theaterbetrieb lernten.
Und Castorf? War für Studierende in den Neunzigerjahren ungefähr der einzige Regisseur, vor dem man intellektuelle Achtung hatte. Castorf schmiss mit Bildung und Pop um sich, mit der Trauer um das verlorene Projekt der Moderne, auch mit französischen Philosophen, während die meisten Theaterhistoriker und auch Großkritiker noch von Dingen wie Wahrheit und Authentizität redeten. Er war der Einzige der Großen, der nicht vor der Wende stehen blieb. Damals.
Oft betont der deutsche Betrieb, dass er die europäische Avantgarde mitfinanziere, über Gastspiele und Festivals. Das stimmt. So lange die Gelder so klar verteilt sind wie heute, stimmt das aber auch für die Spitzen der freien Produktionsformen vor Ort. Das heißt: Jeder Bühnenschaffende, egal ob Performer, Schauspieler, Laie oder Experte, muss ein Interesse haben, dass man die Häuser verändert, um sie zu erhalten. Internationale Netzwerke und Koproduktionen sind nicht denkbar ohne die Infrastruktur in Deutschland, die tatsächlich bedroht ist. Es ist gefährlich, wenn die einen mauern und die andern entnervt weghören. Ohne Reform der deutschen Stadttheater wird auch die Freie Szene alt aussehen.

_Tobi Müller ist Kulturjournalist und Moderator und wohnt in Berlin. Er schreibt und spricht über Theater- und Popthemen und leitet Gesprächsrunden. Gerade hat er ein Projekt an einem großen Schauspielhaus betreut. Zurzeit arbeitet er an einem Dokumentarfilm. www.tobimueller.net

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