Migrantenstadl als Modell?

3 Juni 2013

WOLFGANG SCHNEIDER plädiert für Interkulturalität als Beitrag zur Reform des Theaters

Ein Phänomen geht um, in den darstellenden Künsten. Shermin Langhoff soll es erfunden haben, Azadeh Sharifi hat es in ihrer Dissertation „Theater für Alle?“ untersucht, und alle organisierten Diskursakteure unserer Theaterlandschaft, vom Bühnenverein bis zur Dramaturgischen Gesellschaft, bemühen sich darum, wie denn das Thema Migration vor, auf und hinter der Bühne eine größere Rolle spielen könnte. Welche theaterpolitischen Konzepte initiieren den Austausch der Kulturen? Welche künstlerischen Programme verhandeln den kulturellen Wandel? Aber will denn wirklich wer den Migrantenstadl als Modell?

Es geht um mehr. Es geht eben nicht nur darum, in Programm, Personal und Publikum zu berücksichtigen, dass mittlerweile fast ein Viertel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat. Es geht schlicht und einfach um die Reform des Theaters.

Fremd sei der Fremde nur in der Fremde, ein humoriges Wortspiel des Kabarettisten Karl Valentin macht den Ernst der Lage deutlich: Es kommt auf den Standpunkt an, wer fremd ist und was das Fremde sein kann. Hierzulande wird allzu gerne und allzu leichtfertig von „Wir“ und „Ihr“ gesprochen. Angeworbene Arbeitskräfte wurden als Gastarbeiter stigmatisiert, ihre Familien leben mittlerweile unter uns, doch allzu oft noch ghettoisiert. Die Frage der Teilhabe an der Gesellschaft ist im besten Falle eine Frage der Integration, die Frage ihrer Rolle in der öffentlich geförderten Kulturlandschaft blieb bisher eher unbeantwortet.

Theater als nervende Pflichtveranstaltung?
Das 1. InterKulturBarometer Deutschland 2012 eröffnete Möglichkeiten zur notwendigen Diskussion neuer Konzeptionen und überfälliger Korrekturen. Die Studie ist am Zentrum für Kulturforschung erarbeitet worden, am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim findet die wissenschaftliche Begleitung statt. Es geht um die Interpretation, um die Bewertung und um den Diskurs, es geht um Konsequenzen für den Kulturbetrieb und die Kulturpolitik. Und es wird auch weiterhin über kulturelle Teilhabe, künstlerische Interessen und kulturpolitische Perspektiven zu diskutieren sein. (In: Susanne Keuchel: Das 1. InterKulturBarometer)

Ziel des InterKulturBarometers war es, erstmals verlässliche Zahlen über die kulturellen und künstlerischen Prozesse einer durch Migration beeinflussten Gesellschaft sowie die kulturelle Partizipation und Identität der Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Faktors Migration zu liefern.

„Ich gehe sehr ungern ins Theater“, schreibt der 17-jährige Mourad R. dem Forum Freies Theater Düsseldorf. Warum er nicht gerne ins Theater geht, kann man im dritten Band einer Brief-Edition unter dem Titel „Absagen ans Theater“ (April 2012) lesen: „… ich habe Besseres und vor allem Wichtigeres zu tun“. Theater ist für ihn wie für viele andere Schüler „eine nervende Pflichtveranstaltung“. Die Studie belegt das eindrucksvoll. Vor allem Menschen mit Migrationshintergrund fühlen sich von den darstellenden Künsten nicht angesprochen. Das InterKulturBarometer stellt fest: „Anteilig weniger offen ist die migrantische Bevölkerungsgruppe vor allem für Theateraufführungen, was insbesondere auch für die dritte Generation gilt.“

Anscheinend hat unsere viel gerühmte Theaterlandschaft nicht angemessen auf Zuwanderung reagiert und kulturelle Vielfalt nicht entsprechend auf der Agenda. Dabei bezeichnen doch insbesondere die Stadt- und Staatstheater ihr Geschäft gerne als Selbstvergewisserung der Gesellschaft. Sie wollen Spiegel des Lebens sein. In unserem Kulturstaat ist das Schauspiel aber ziemlich deutsch geblieben. Nicht nur das Publikum entspricht nicht der bunten Republik, auch im Personal und in den Produktionen ist das Theater wenig multiethnisch.

Theaterförderung als würde man seit 25000 Jahren die Höhlenmalerei subventionieren?
Die Respektierung kultureller Vielfalt ist in einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft Voraussetzung und Herausforderung zugleich. Kulturpolitik könnte dann im Integrationsbemühen eine zentrale Rolle spielen, sie sollte zum Verständnis sowie zur Anerkennung kultureller Differenzen beitragen.

Bei diesem Gestaltungsprozess kann die Kultur eine große Rolle übernehmen. In Kunst und Kultur liegt nicht nur eine identitätsstiftende Wirkung, sondern der interkulturelle Dialog, der über das Medium Kunst als ästhetischem Raum geführt wird, fördert kritisches, mehrdimensionales Denken und Handeln.

Es gilt also, insbesondere seitens öffentlicher, aber auch privater Kultureinrichtungen, dieser Vermittlerrolle gerecht zu werden. Dabei ist die interkulturelle Öffnung aufgrund ihres gesellschaftlichen Auftrages nicht mehr nur eine Option, sondern wird zum Handlungsimperativ. All diese Entwicklungen, begleitet durch zahlreiche Untersuchungen, sind eingebettet in eine Krise des Kulturstaates. 90% öffentlicher Förderung gehen in die städtische Kultur, 90% der städtischen Kultur findet in den institutionalisierten Kunstbetrieben statt, aber nur 10% der Bevölkerung besuchen diese regelmäßig. Hinzu kommen die permanenten Finanzierungsnöte der Kommunen. Einnahmeausfälle stehen Ausgabenerhöhungen gegenüber. Einige befürchten die weitere Kommerzialisierung der Freizeitgesellschaft: dass der Markt reguliert, was Kultur ist und dass etwa Theaterförderung so etwas sei, als wenn man seit 25.000 Jahren die Höhlenmalerei subventionieren würde. Andere sehen Deutschlands Freiheit gefährdet, die es nicht am Hindukusch zu verteidigen gelte, sondern in den Theatern, Konzertsälen, Opernhäusern, Museen und Buchläden und natürlich in den Schulen.

Kulturelle Bildung für kulturelle Vielfalt
Interkultur könnte im Zusammenhang mit dem Problem der Integrationspolitik und der Krise der Kulturlandschaft als Schlüsselbegriff genutzt werden, um den Anspruch von Kulturpolitik neu zu definieren und Integration mittels kultureller Praxis zu ermöglichen. Es sei höchste Zeit, über die Gestaltung der Zukunft zu sprechen, schreibt Mark Terkessidis. Es geht ihm um die „Kultur-im-Zwischen“, um das „Prinzip“ Interkultur, das für die mannigfaltigen Produktionen der Vielheit sensibilisieren soll. (In: Mark Terkessidis: Interkultur)

Kultur und Kunst sind für einen gelingenden interkulturellen Dialog unverzichtbar. Die den Künsten innewohnende Dynamik, ihr Experimentier- und Innovationscharakter, ihr emotionales Potential und nicht zuletzt die Möglichkeit der nonverbalen Kommunikation erleichtern und befördern die Begegnung mit anderen Kulturen und Traditionen und verstärken die wechselseitige Akzeptanz. So können besonders kulturelle Bildungsprozesse unterschiedliche Wertvorstellungen und Lebensformen vermitteln. Kenntnis und Verständnis füreinander sind wesentliche Voraussetzungen für ein gewaltfreies Zusammenleben in der Stadtgesellschaft. „Die Sicht auf das lenken, was wir gemeinsam werden können“, heißt es auf einer zivilgesellschaftlichen Plattform aus dem Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs in dem so genannten Rainbow-Paper 2008. „Wir müssen die Interkulturalität, d. h. das Prinzip, Kulturen durch interkulturelles Engagement zu entwickeln, zu unserer neuen menschlichen Norm erheben.“ (www.interculture-europe.org)

Grundlage aller kulturpolitischen Veränderungen ist ein Fundament umfassender kultureller Bildung. Denn wenn es der Gesellschaft nicht gelingt, durch die Schulpflicht das außerschulische Kulturleben mitzugestalten – als Schule des Sehens und Hörens –, dann werden auch weiterhin große Bevölkerungskreise vom Kulturangebot ausgeschlossen bleiben und neue kulturelle Ausdrucksformen – im besten Falle – nur jenseits der öffentlichen Kulturpolitik vegetieren können. Das Plädoyer muss gerade auch nach der Kenntnis des jüngsten Bildungsberichts der Bundesregierung und aller Bemühungen der Länder, kulturelle Bildung in Sonntagsreden als gesellschaftliche Aufgabe zu beschreiben, nach wie vor für eine Implementierung in die Curricula gelten – nachzulesen im Schlussbericht der Kultur-Enquête als Sondervotum. Es braucht dringend ein Schulfach Kulturelle Bildung, einen Lernbereich vom Kindergarten bis zur Volkshochschule, einen bildungspolitischen Schwerpunkt auf Kultur im lebenslangen Lernen.

Audience Development als Instrument systematischer Publikumserweiterung und Publikumsbindung ist ein die gesamte Institution, ihre Aufbau- und Ablauforganisation umfassendes Konzept – eine institutionelle Querschnittsaufgabe vom Servicebereich bis zur Programmarbeit. Und nur die Selbst-Verpflichtung eines gesamten Kulturbetriebes zur kulturellen Vielfalt führt zu einem kulturell diversen Publikum. Um kulturelle Angebote für unterschiedliche Zielgruppen zu gestalten, positionieren, kommunizieren, vertreiben und vermitteln, arbeitet das Audience Development in der Praxis mit Ansätzen aus dem Kulturmarketing, der Kultur-PR, der Besucherforschung, Kunstvermittlung und kulturellen Bildung. Ein Paradigmenwechsel von der in Deutschland traditionellen Angebotsorientierung zur Nachfrageorientierung ist überfällig.

Hassan Mahamdallie vom Arts Council England beschreibt die zukünftige Entwicklung in den Künsten als eine Vereinbarung für Vielfalt. „That is especially important in an era where we face severe cuts to public spending. It would be a gross error for the arts to turn inwards, to “preserve” the status quo, we would argue that now is the time to be bold, to acknowledge that those who we think of being at the margins are in fact, in may ways, the pioneers running in front of us – showing us a different, richer, more dynamic and relevant future for the arts and wider culture.”

Die Beziehungen zwischen Künsten und Vielfalt sei eine von Gleichheit geprägte. „The Arts Council certainly does not have all the answers to the questions that a creative approach to diversity and equality throws up, but it does want to create the opportunities for people to ask profound questions, to debate them and provide convincing evidence for their assertions and viewpoints. We hope as a result that the arts community will come to regard diversity and equality as wholly integrated into its everyday thought and practice.” (In: Richard Appignanesi (Ed.): Beyond Cultural Diversity)

Social Turn als kulturpolitische Chance
Um der Bedeutung von Kunst und Kultur für Individuum und Gesellschaft gerecht zu werden, bedarf es einer Kulturpolitik, die insbesondere den Prozess der kulturellen Partizipation vorantreibt. Aber nicht alle Menschen können und wollen ihre Selbstvergewisserung über künstlerische Erlebnisse erfahren.

Wenn dennoch indirekt auch für sie die Künste diese Bedeutung haben, dann über mehrfache Vermittlung durch Medien und Öffentlichkeiten. So haben die Künste diese Bedeutung auch indirekt, als Teilbereich der Kultur. „Denn wenn irgendwer die Freiheit und Würde des Einzelnen diskutiert, einfordert, in aller Widersprüchlichkeit darstellt, die symbolischen Formen bereitstellt, in denen sie überhaupt gedacht und vor allem erlebt werden können, dann geschieht dies vor allem im Medium der Künste.“ (In: Deutscher Bundestag) So formulierte es die Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages 2007. Durch die Künste werden Individualität und soziale Gebundenheit thematisiert. Damit wirken die Künste weit über die Sphäre der künstlerischen Kommunikation in die Gesellschaft und prägen deren menschliche Sinn- und Zwecksetzung. Und deshalb bedarf es einer Kulturpolitik, die sich als Gesellschaftspolitik versteht und daher Kunst und Kultur ermöglicht, verteidigt und mitgestaltet.

Es geht um eine tabulose Umverteilung von öffentlicher Kulturförderung und der internen Umstrukturierung in Kunstbetrieben, um mehr Kulturzugänge für die gesamte Bevölkerung zu ermöglichen. Es geht um eine Kulturentwicklungsplanung, nicht nur für die Städte, auch für den ländlichen Raum, nicht nur für die Bildungsbürger, sondern Kultur für alle! Bianca Michaels beschreibt den Social Turn als kulturpolitische Chance: „Migration könnte sich als ein produktiver Innovationsimpuls für die Theaterinstitutionen erweisen. Angesichts der Herausforderungen, welche die demografischen und sozialen Entwicklungen in Deutschland stellen, scheint sich (…) bei vielen Theaterschaffenden im Zuge des Social Turn ein neues Selbstverständnis herauszubilden. Dieses könnte sich nicht zuletzt zu einer neuen Funktionsbestimmung von Theater in der Gesellschaft, ohne dabei einem einseitig instrumentellen Kunstbegriff anheim zu fallen, und einer neuen kulturpolitischen Legitimation entwickeln.“ (In: Schneider (Hg.): Theater und Migration)

Professor Dr. Wolfgang Schneider ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und Inhaber des UNESCO Chair „Cultural Policy for the Arts in Development“. 2011 erschien die von ihm herausgegebene Publikation „Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis“, 2012 der Band „Künstler. Ein Report. Porträts und Gespräche zur Kulturpolitik“, im Herbst diesen Jahres ist die schriftliche Fassung der Ringvorlesung „Theater. Entwickeln. Planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste“, deren Vorträge unter www.nachtkritik.de als Hildesheimer Thesen diskutiert wurden, geplant (alle Bücher im transcript-Verlag, Bielefeld).

Textnachweise:
Deutscher Bundestag: Schlussbericht der Enquete-Kommission “Kultur in Deutschland”, Regensburg 2008
Richard Appignanesi (Ed.) Beyond Cultural Diversiy. The Case for Creativity. London 2010
Birgit Mandel: Interkulturelles Audience Development. Zukunftsstrategien für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen. Bielefeld 2013
Wolfgang Schneider: Integration durch Interkultur oder Interkultur statt Integration. In: Andrea Ehlert, Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss (Hg.): Interkultur – Teilhabe und kulturelle Vielfalt in Niedersachsen. Wolfenbüttel 2013
Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis. Bielefeld 2011
Wolfgang Schneider: Von der Angebotsorientierung zur Teilhabeermöglichung. Kulturpolitische Konsequenzen aus dem Ersten InterKulturBarometer 2012. In: Susanne Keuchel (Hg.): Das 1. InterKulturBarometer. Migration als Einflussfaktor auf Kunst und Kultur. Köln 2012
Azadeh Sharifi: Theater für Alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln. Studien zur Kulturpolitik, Band 13, herausgegeben von Wolfgang Schneider. Frankfurt am Main 2011
Mark Terkessidis: Interkultur. Frankfurt am Main 2010
www.interculture-europe.org
www.theaterpolitik.de
www.unesco.de

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