FREIES THEATER ABSCHAFFEN!

21 November 2012

VEIT SPRENGER erklärt in 10 Punkten, warum wir erst den Begriff und dann am besten gleich das freie Theater selbst loswerden sollten.

1.
Wenn ein Wort in Anführungsstrichen steht, dann stimmt entweder mit dem Wort etwas nicht, oder es stimmt mit den Anführungsstrichen etwas nicht. Man muss also entweder die Anführungsstriche weglassen, oder das Wort.

2.
Die Bezeichnung Freies Theater gibt es im öffentlichen Diskurs in folgenden drei Formen zu lesen:

a) … Freies Theater … (18%)
b) … sogenanntes Freies Theater … (24%)
c) … „Freies“ Theater … (58%)

Im verbalen Schlagabtausch werden die Anführungsstriche in der Regel durch eine doppelte Abwärtsbewegung der Zeige- und Mittelfinger beider Hände während der Artikulation von Freies simuliert.

3.
Weil das Wort Freies in der Bezeichnung Freies Theater somit in 82% der Fälle in Anführungsstriche gesetzt oder in uneigentlicher Rede verwendet wird (im verbalen Austausch sind es sogar 85%), ist anzunehmen, dass mit dem Wort Freies etwas nicht stimmt.

4.
Ich schlage daher vor, bei der Bezeichnung Freies Theater das Wort Freies wegzulassen. Dann steht da nur noch Theater. Und Theater ist genau das, was wir machen.

5.
Wenn wir die Differenzierung weglassen, sind wir näher an der Wirklichkeit. Die reichen Häuser holen sich schon seit längerer Zeit ursprünglich systemfremde Gruppen, Organisationen, Produktionen und Konzepte heran, weil sie gemerkt haben, dass sie mit dem Käthchen von Heilbronn die Hütte nicht mehr voll kriegen. Erfindung, Produktion, Dramaturgie und künstlerische Leitung werden an künstlerische Subunternehmer aus der ehemals freien Zone vergeben.

6.
Umgekehrt sind genau die Gruppen, Organisationen, Produktionen und Konzepte aus der ehemals freien Zone dabei, sich innerhalb ihrer selbst geschaffenen Strukturen zu einem ernst zu nehmenden und auch ernst genommenen Faktor zu entwickeln, der einen Status jenseits der kulturellen Duldung einfordert. Die beteiligten Künstler werden nicht mehr nur als Kanonenfutter zwischen Festivals hin und her geschoben, sondern sie definieren auch große Theaterinstitutionen.

7.
Wenn wir also das Freie vor dem Theater weglassen, dann steht da nur noch Theater. Dann ist Theater Theater, egal wo und von wem es gemacht wird. Mit anderen Worten: Im kulturpolitischen Hühnerhof gibt es nur noch Hennen einer Sorte. Manche dieser Hennen sind sehr fett, andere sind sehr mager. Die fetten Hennen bekommen viel Futter, die mageren Hennen bekommen wenig Futter. Die fetten Hennen, die viel Futter bekommen, produzieren viel Kacke. Die mageren Hennen, die wenig Futter bekommen, produzieren wenig Kacke. Landwirtschaftlich interessant wird es, wenn man feststellt, dass alle Hennen, ob fett oder mager, ungefähr gleich viele Eier legen. Manchmal ist ein goldenes Ei darunter, bei den fetten Hennen etwa genauso oft wie bei den mageren (mit sehr viel Wohlwollen gegenüber den fetten Hennen – wir wollen höflich sein).

8.
Wenn wir mit dem Dispositiv des Einheitshuhns arbeiten, dann können wir kulturpolitisches Handeln leichter fassen. Solange nämlich genug Futter da ist, steht es der Bäuerin frei, fette Hennen neben den mageren in ihrem Gelege herumspazieren zu lassen. Dass sie entsprechend öfter ausmisten muss, ist ihr Problem. Bei Futtermangel sieht die Sache anders aus. Dann wird schnell klar, dass die Rationen aller Hennen ganz neu kalkuliert werden müssen. Andernfalls werden bei gleichmäßiger Futterverknappung zwar alle fetten Hennen überleben, von den mageren Hennen aber nur die stärksten. Im Hühnerhof wird es also Todesfälle geben, und unterm Strich entsprechend weniger Eier – aus sozialdarwinistischer Perspektive sicher ein interessantes Experiment, aus landwirtschaftlicher Perspektive unsinnig.

9.
Schlussfolgerung: Die Bezeichnung Freies Theater entspricht nicht mehr der künstlerischen und politischen Realität. Die Bezeichnung Freies Theater ist reaktionär. Sie ist affirmativ gegenüber allen überholten und irreführenden Implikationen von Kanonisierung, Institutionalisierung, Professionalität und Karrieregefügigkeit. Sie befördert den konservativen Diskurs jener kulturellen Kräfte, die von der künstlerischen Praxis längst überholt worden sind und sich gerne noch ein bisschen in ihren Ämtern suhlen wollen. Das Einheitshuhn dagegen nimmt alle in die Pflicht: die fetten Hennen, die einsichtig werden müssen (so unwahrscheinlich wie die Kunst), die mageren Hennen, die sich zum Aufruhr zusammenrotten müssen (so wahrscheinlich wie der Ist-Zustand), und die Bauern, die bereits Verdacht schöpfen und allmählich damit beginnen, Inventur zu machen.

10.
Wenn wir die Bezeichnung Freies Theater abgeschafft haben, dann können wir uns daran machen, die Bezeichnung Theater abzuschaffen. Aber das klappt wahrscheinlich erst im nächsten Jahr.

Veit Sprenger, Theatermacher, Autor und Musiker, studierte Musik in Hannover, Medizin in Frankfurt a.M. und Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Gründungsmitglied der Theatergruppe Showcase Beat Le Mot. Theaterstücke, Performances, Regie-Arbeiten, Musikvideos und Kurzfilme. Lehrtätigkeit in Deutschland, Finnland, Norwegen und der Schweiz. Mitglied der Leitungsteams mehrerer Festivals. Juror u.a. für das Festival Impulse 2011. Buchpublikation: „Despoten auf der Bühne – Die Inszenierung von Macht und ihre Abstürze“.

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