Jenseits des Freien Theaters

22 November 2012

ANNEMARIE MATZKE räumt in fünf Thesen mit verbreiteten Mythen der vermeintlich freien Theaterszene auf – die es so gar nicht gibt.

These 1
‘Das freie Theater’ gibt es nicht. Was allerdings neben den Stadt- und Staatstheatern existiert, sind unzählige verschiedene Theaterinstitutionen- und Organisationsformen, Theatergruppen und Regiekollektive. Dies reicht vom Puppenspieler, der sich seine Aufführungsorte sucht, vom freien Kindertheater mit eigenem Haus und minimalen Ensembles über lokal verortete Projekte von Tänzerinnen und Tänzern, Schauspielerinnen und Schauspielern, die sich immer wieder neu zusammenfinden bis zu jahrzehntelang agierenden Gruppen ohne festes Haus wie beispielsweise Rimini Protokoll, Gob Squad oder She She Pop, die ihre Inszenierungen weltweit touren und ihre Produktionen mit einem Netzwerk nationaler und internationaler Koproduzenten entwickeln und finanzieren.

These 2
Ein Potential des Labels ‘Freies Theater’ ist es gerade, dass es sich nicht auf einen Begriff bringen lässt. Was all diese verschiedenen Gruppen und Institutionen im Ansatz auszeichnet – im Gegensatz zu den festen Häusern –, ist eine Arbeit jenseits vorher festgelegter Strukturen. Die Bedingungen des Produzierens werden selbst entworfen – soweit es die ökonomischen Zwänge erlauben. Gearbeitet wird damit im besten Falle immer auf zwei Ebenen: An den Inszenierungen und zugleich an der eigenen Institutionalisierung und deren Reflexion. Die Theatergruppen sind nicht von der Politik an ein Haus berufen worden, sondern haben sich selbst Ort und Mittel gesucht. Sicher unterliegen sie im besonderen Maße auch den Vorgaben der Förderstrukturen, den Voten von Jurys, aber wie, mit wem und an welchem Ort produziert wird, gehört zu den Fragen, denen sich jedes Projekt der Freien Szene immer wieder stellen muss.

These 3
Die Ausdifferenzierung verschiedener Organisationsformen ist nicht nur Potential sondern auch Problem eines Theaters jenseits des Stadttheaters. Die ‘Freie Szene’ steht gegenüber den vorherrschenden Stadttheatern und ihren Ansprüchen ohnehin vor dem Problem, von der Kulturpolitik leicht übersehen zu werden. Die unterschiedlichen Ansätze und Institutionalisierungsformen machen es zudem zunehmend schwierig, gemeinsame Ziele zu formulieren. Deshalb ist es notwendig, eine Bestandaufnahme und Analyse gegenwärtiger Organisationsformen und Institutionen vorzunehmen, um nicht in der Rede von ‘der freien Szene’ bestehende Unterschiede zu negieren. Damit lässt sich dann auch das Verhältnis zum Stadttheater nicht mehr über eine Abgrenzung fassen. Denn sicher stehen einige international agierende Gruppen den Strukturen mancher fester Bühnen in den Großstädten näher als sie vielleicht denken, während manches kleine Stadttheater unter ähnlichen Problemen leidet, wie ein Haus der freien Szene mit festem Ensemble. Es gilt, diese verschiedenen Formen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern je eigene Förderinstrumente für sie zu finden.

These 4
Betrachtet man die Formen, die gegenwärtig unter dem Label ‘Freies Theater’ gefasst werden, so lässt sich allerdings eine Tendenz zu flexibilisierten Arbeitsformen feststellen. Während sich die Freie Szene der siebziger und achtziger Jahre durch Gründungen von eigenen Häusern auszeichnete, sind seit den ausgehenden neunziger Jahren zunehmend freie Spielstätten wie das Hebbel am Ufer in Berlin, Kampnagel Hamburg oder das Forum Freies Theater in Düsseldorf entstanden, die unterschiedliche Projekte und Theatergruppen zeigen. Auf der Ebene der Künstlerinnen und Künstler finden sich ebenfalls zunehmend freie Gruppen oder auch Einzelkünstlerinnen und Einzelkünstler, die auf die Abhängigkeit von Fördergeldern nicht mit der Gründung neuer Aufführungsorte reagieren, sondern Autonomie durch möglichst verschiedene Kooperationen zu erlangen versuchen. In unterschiedlichen institutionellen Kontexten, mit verschiedenen Geldgebern und Koproduktionspartnern, in wechselnden Städten wird produziert. Dabei ist das Projekt – als zeitlich und organisatorisch limitierter Arbeitskontext – die vorherrschende Arbeitsform.

These 5
Diese Tendenz zur Flexibilisierung wird für die Künstlerinnen und Künstler aber auch zum Problem. Die zeitliche Begrenzung auf ein Projekt erlaubt kaum längerfristige Planung. Nicht wenige Schauspielerinnen und Schauspieler, Tänzer und Tänzerinnen hangeln sich so von einem Engagement ins nächste ohne jede Absicherung. Temporäre Projektarbeit fordert von der einzelnen Künstlerin und dem einzelnen Künstler, sich immer wieder neu Arbeit zu suchen und sich beständig selbst zu vermarkten, um sich so neue Arbeitsmöglichkeiten zu erschließen. Die Zwänge einer postfordistischen Arbeitswelt werden so in der Kunst nicht nur wiederholt, sondern potenziert, wie es René Pollesch in zahlreichen Inszenierungen treffend beschrieben hat. Eine Antwort auf dieses Problem liefern die Theater- und Regiekollektive. Dass Gob Squad, Showcase Beat le Mot oder She She Pop zu den über einen langen Zeitraum erfolgreichen Gruppen gehören, die jenseits des Stadttheaters agieren, liegt sicher auch an ihrer kollektiven Arbeitweise. Den Anforderungen zur Selbstvermarktung unterliegt auch das Kollektiv. Doch anders als in zeitlich begrenzten Organisationsformen eröffnet das kollektive Arbeiten einen Raum, um kontinuierlich die eigenen Bedingungen und Möglichkeiten des Produzierens zu verhandeln und zu verändern. Wenn also der Bundeskongress des Bundesverbands Freier Darstellender Künste in Dresden ein Panel mit der programmatischen Überschrift “Bildet Kollektive!” veranstaltet, dann zeigt sich ein neues Interesse über Arbeitsformen nachzudenken, die flexibel genug sind die eigenen Formen der Institutionalisierung immer mit zu reflektieren und wenn notwendig zu ändern und die zugleich eine größtmögliche Autonomie versprechen.

Mieke Matzke ist Professorin für Experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Universität Hildesheim und Mitglied der Gruppe She She Pop. Ihre Forschungsgebiete sind Geschichte und Theorie der Theaterprobe, Schauspieltheorien, theatrale Raumkonzepte, Improvisation sowie Tanz- und Bewegungskonzepte.

Der Text entstand im Kontext der Hildesheimer Thesen, einer Medienpartnerschaft von nachtkritik.de mit dem Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und wurde veröffentlicht auf nachtkritik.de.

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