Gesellschaftsspiele

Was ist das Eigentliche am Theater? Eben nicht nur, dass es in seinen Inhalten die Gesellschaft spiegeln, kritisieren, herausfordern kann. Sondern dass es immer schon in der jeweiligen Form, in der es das tut, ein Ausdruck seiner Zeit ist: Die griechische Polis fand sich im Dionysos-Theater ein, um ihre Werte zu verhandeln. Im Barock war auch das Spiel ganz auf den absoluten Monarchen ausgerichtet. Und nicht zufällig ging das Erwachen des europäischen Bürgertums Hand in Hand mit der Entstehung des bürgerlichen Theaters als ästhetisches und auch konkretes kulturpolitisches Phänomen.
Vor allem die Avantgarden des 20. Jahrhunderts haben dann das Theater als Werkzeug begriffen, mit dem eine Gesellschaft nicht nur gespiegelt oder bestenfalls herausgefordert, sondern konkret verändert werden kann. Brecht wünschte sich ein Theater ohne Unterscheidung zwischen Zuschauer und Schauspieler als moralische Anstalt des Klassenkampfes. Sein Antipode Artaud imaginierte die Aufhebung dieser Grenze als umstürzlerischen Rausch.
Auch wenn diese strukturelle Ähnlichkeit zwischen Politik und Theater auf dem Papier oft radikaler blieb als in ihrer Praxis, haben Künstler das Theater immer als Medium begriffen, in dem soziale und politische Verfahrensweisen ausprobiert werden können, in denen Gesellschaften in ihren verschiedenen – tatsächlichen oder imaginierten – Spielarten performt, weitergedacht, überprüft oder gar erst erfunden werden.

Das Impulse Theater Festival 2015 lädt zehn Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum ein und initiiert außerdem drei Projekte internationaler Künstler in Köln, Düsseldorf und Mülheim, die Gesellschaft nicht nur abbilden, sondern Bedingungen unseres Zusammenlebens ernsthaft hinterfragen oder sich gar unmittelbar in gesellschaftliche Prozesse einmischen. Freies Theater ist noch immer ein politisches und soziales Labor der Gegenwärtigkeit, das zeigt, wie die performativen Künste ihr agonistisches, provokantes Potential entfalten können – ein Potential, das eben nicht einfach sofort integrierbar ist und gesellschaftliche Dysfunktionalitäten, Brüche und Wunden einfach nur kaschiert, sondern diese thematisiert und ausspielt. Denn darum geht es zu einem Zeitpunkt, an dem der ehemals verpönte Leitspruch „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ eine unerwartete Renaissance erlebt: Verhandlungs- und Debattenräume zu eröffnen, in denen Widersprüche nicht nur ausgehalten, sondern sinnfällig überhaupt erst formuliert werden können.

Wie werden wir repräsentiert? Wen repräsentieren wir, mit welchem Recht, in welcher Weise? Diese Fragen zielen ins Herz jeder Gesellschaft und werden in den letzten Jahren – vor dem Hintergrund kriselnder Demokratien – in Politik, Medien, Kunst immer nachdrücklicher gestellt. Und nicht zuletzt natürlich im Theater, dem künstlerischen Medium der Repräsentation von Menschen und Geschichten: Wer und was kann und soll auf der Bühne dargestellt werden?

Impulse 2015 untersucht diese Fragen nicht nur in einer eigenen Konferenz, sondern vor allem in den künstlerischen Beiträgen selbst. „The Civil Wars“ beispielsweise kann als ein Wendepunkt in Milo Raus Arbeit gelesen werden: Statt Andere darzustellen, reflektieren sich die Schauspieler selbst und suchen in ihrem eigenen Leben nach möglichen Erklärungen dafür, warum europäische Jugendliche plötzlich als Krieger nach Syrien ziehen. Gob Squads Arbeit befragt schon immer das eigene Leben – doch mit „Western Society“ erweitern sie ihren Blick und zeichnen das nostalgische Portrait einer Gesellschaft, die es so eigentlich schon nicht mehr gibt, nicht mehr geben kann, nicht mehr geben darf. Gintersdorfer/Klaßen hingegen haben ihre Bühne schon seit Jahren für andere Repräsentationsformen geräumt: „Chefferie“ ist nicht nur ein altes afrikanisches Versammlungsprinzip vieler gleichberechtigter Chefs, sondern auch die Vision von Gintersdorfer/Klaßens künstlerischer Praxis. Mit vielen Stimmen sprechen auch andcompany&Co, wenn sie fragen, was Sprache überhaupt noch kann, aber auch, wie man Kriege beendet, die nie erklärt wurden.
„Ibsen: Gespenster“ der jungen Theatermacher Markus&Markus ist ein theatrales Denkmal für einen Menschen, der nicht mehr lebt und für die Konfrontation mit einem realen Freitod: Was kann man im Theater zeigen, wie wahr, wie nah, wie ernst, wie voyeuristisch darf es sein? Sind wir Voyeure oder Zeugen? Ebenso persönlich wie politisch ist es auch, wenn Rabih Mroué in „Riding on a Cloud“ seinen Bruder auftreten lässt, für den Repräsentation tatsächlich keine Bedeutung mehr hat: Als Kind hat er nach einer schweren Verwundung im libanesischen Bürgerkrieg die Fähigkeit verloren, die Realität in Worten und auf Bildern wiederzuerkennen.
Doch Theater repräsentiert nicht nur, es ist zugleich ein realer Ort mit realen Verhandlungen zwischen Menschen. Herbordt/Mohrens „Die Aufführung “ ist zugleich Repräsentation und das Ding an sich, ein Spiel mit Kategorien und Zuschreibungen, bei dem die Zuschauer maximale Entscheidungsfreiheit behalten, viel dürfen, aber nichts müssen. Solche Entscheidungsfreiheit ist uns auf beklemmende Weise in „Anonymous P.“ von Chris Kondek & Christiane Kühl längst genommen: Unsere Daten werden von Geheimdiensten und kommerziellen Kompanien verschachert mit dem Ziel, jeden unserer Schritte vorherbestimmen zu können. Wenn wir uns anschließend gemeinsam mit Hendrik Quast & Maika Knoblich noch einmal um eine mühevoll wieder zusammengebastelte deutsche Eiche versammeln, dann ist klar: Die Utopie einer selbstbestimmten Identität ist fragil.

Eine Produktionen, die im Kontext unserer Beschäftigung mit Agonismus und Repräsentanz im Theater ebenfalls beispielhaft ist, findet ihren Weg indirekt ins Impulse-Programm: In der Filmdokumentation von Milo Raus „Moscow Trials“ verhandeln Künstler, Kuratoren, radikale Orthodoxe und reaktionäre Journalisten über die Freiheit der Kunst. Zudem bringt die Performance-Band Maiden Monsters den „Sound of Crisis“ von ihrer Tour durch Griechenland nach Mülheim – und damit ein etwas anderes Bild von Europas Süden als es in Deutschland derzeit propagiert wird.

Drei internationalen Eigenproduktionen rahmen das Impulse-Programm: In Mülheim/Ruhr siedelt sich dauerhaft die vom kurdischen Künstler Ahmet Öğüt initiierte „Silent University” an, eine autonome Plattform für Wissensaustausch von und für Geflüchtete, Asylsuchende und Migranten. Die niederländische Regisseurin Lotte van den Berg verwirklicht mit „Building Conversation” am FFT in Düsseldorf Theater als das, was bleibt, wenn man alles Unnötige abzieht: eine Verabredung zum Gespräch mit definierten Spielregeln, das Reden miteinander als Theater. Die Gesprächsräume hingegen, die der bildende Künstler und Filmemacher Phil Collins mit Studierenden aus Köln und Ramallah bei „Our Position Vanishes“ schafft, sind mobil: Die Busse, die unsere Partnerhäuser, die studiobühne in Köln und das FFT in Düsseldorf, mit dem Festivalzentrum am Ringlokschuppen Ruhr verbinden, werden kollektive Erfahrungsräume, in denen sich Geografien und Sounds politische Theorien und konkrete Aktionen überlagern.

Zum ersten Mal in seiner Geschichte konzentriert sich das Impulse Theater Festival zu seinem 25. Geburtstag auf eine Stadt: Der Ringlokschuppen Ruhr in Mülheim wird für zehn Tage zum Zentrum des freien Theaters, während Düsseldorf und Köln als assoziierte Partner mit an Bord sind. Künftig findet Impulse wieder jährlich statt und die beteiligten Städte werden abwechselnd Hauptorte des Festivals.

-> Inhaltlichens Konzept 2015