Gesellschaftsspiele


Theatre is the only art whose sole subject is man in his relation
with others… This is why theatre is political art par excellence.
Hannah Arendt



Was ist das Eigentliche am Theater? Eben nicht nur, dass es in seinen Inhalten die Gesellschaft spiegeln, kritisieren, herausfordern kann. Sondern dass es vor allem in der jeweiligen Form, in der es das tut, immer schon ein Ausdruck seiner Zeit ist. Dass es diese Zeit bestätigt, wo es konventionell ist. Diese herausfordert, wo es progressiv ist: Die griechische Polis fand sich im Dionysos-Theater ein, um ihre Werte zu verhandeln. Im Barock war auch das Spiel ganz auf den absoluten Monarchen ausgerichtet. Und nicht zufällig ging das Erwachen des europäischen Bürgertums Hand in Hand mit der Entstehung des bürgerlichen Theaters als ästhetisches und auch konkretes kulturpolitisches und institutionelles Phänomen.
Vor allem die Avantgarden des 20. Jahrhunderts haben dann das Theater als Werkzeug begriffen, mit dem eine Gesellschaft nicht nur gespiegelt oder bestenfalls herausgefordert, sondern konkret verändert werden kann. Brecht wünschte sich ein Theater ohne Unterscheidung zwischen Zuschauer und Schauspieler als moralische Anstalt des Klassenkampfes. Antipode Artaud imaginierte sich die Aufhebung dieser Grenze als umstürzlerischen Rausch.
Auch wenn diese strukturelle Ähnlichkeit zwischen Politik und Theater auf dem Papier oft radikaler und augenfälliger blieb als in ihrer Praxis, haben die konsequentesten unter den performativen Künstlern das Theater immer als Medium begriffen, in dem soziale und politische Verfahrensweisen ausprobiert werden können, in denen Gesellschaften in ihren verschiedenen – tatsächlichen oder imaginierten – Spielarten gespielt, performt, weitergedacht, überprüft oder gar erst erfunden werden.
Deshalb ist es nicht überraschend, dass die politische Krise der Repräsentation der letzten Jahre mit einer künstlerischen Krise des bürgerlichen Theatermodells, das noch immer die Bühnen beherrscht, einhergeht. Wie wir repräsentiert werden, wie wir uns selbst repräsentieren bzw. präsentieren – diese Fragen werden als „social turn“ im freien Theater konsequent forciert. Die reine Repräsentation wird durch den Fokus auf das Erzeugen realer Situationen ersetzt. Und gleichzeitig hat sich in den letzten Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass Präsenz Repräsentation nicht ausschließt, sondern vor allem auf eine andere Weise nutz- und überprüfbar macht.
Das Paradigma des Kollektivs, das in den letzten Jahren im freien Theater immer wichtiger wurde, wird um den Kreis der Besucher erweitert und so ein Raum geschaffen, in dem explizit oder implizit mögliche gesellschaftliche Verfahrensweisen ausprobiert werden können. Das Spektrum reicht von „Experten des Alltags“ über das Theater als Gericht, als Gameshow oder als Diskursort bis hin zum ambient theatre. Es umfasst in sich geschlossene totalitäre Mini-Systeme ebenso wie direkte, oft radikale Einmischungen in die Gesellschaft. Auch die unübersehbare Häufung von „Instituten“ und „Organisation“ als Metaphern oder
reale Strukturen im freien Theater weist darauf hin, dass die performativen Künste zunehmend als Möglichkeit der Analyse von Verfahren gesehen werden. Soziale Situationen und Prozesse werden initiiert, die eigener, teils neuer künstlerischer Kriterien bedürfen.
Es ist kein Zufall, dass sich Zuschauer hier in kein Außen flüchten können und ihre kritische Position von innen heraus entwickeln müssen. Die kollektiv hergestellte Situation ist eben auch ein Gegenentwurf zu einer Gesellschaft des Spektakels, die uns auf die Rolle des konsumierenden Zuschauers oder bestenfalls eines Komparsen reduziert.
Die Art, wie auf diese Weise das Verhältnis von Künstlern und Zuschauern in den Mittelpunkt gerät, zielt nicht auf ein simpel gedachtes, eilfertiges Mitmachtheater, das eine Art der Bevormundung lediglich durch eine andere ersetzt.
Vermeintliche Partizipation ist ein Symptom des kapitalistischen Systems, das eben nicht an seinen Widersprüchen zugrunde geht, sondern sie integriert. Eben dies ist der Albtraum einer Partizipation, der man sich nicht entziehen kann und die nur davon abhält, tatsächlich zu partizipieren: Mitmachen, mitspielen, mitlaufen.
Tatsächliche Partizipation lebt – in der Politik wie in der Kunst – von ihrem radikalen Potential. Teilhabe ist kein pazifizierendes Placebo. Sie kann ermächtigend sein, aber auch anstrengend oder gar unangenehm, wie in Christoph Schlingensiefs frühen Performances oder in Artur Zmijewskis oder Santiago Sierras verstörenden Versuchsanordnungen.
Teilhabe und Partizipation kann im Theater auf der anderen Seite aber durchaus auch in klassisch frontalen Theaterräumen stattfinden – da wo erkannt wird, dass auch die Proszeniumsbühne, die Black Box oder der White Cube reale Orte sind. Auch sie sind „site specific“, auch sie können eine reale, temporäre Gemeinschaft erzeugen und die Funktion, das Potential, aber auch die Sollbruchstellen des eigenen Rituals untersuchen. Vor allem aber wird Teilhabe wieder vermehrt in streitbaren Theaterarbeiten eingefordert, die Grenzen zwischen Kunst und Gesellschaft verwischen, bzw. sich sehr direkt in Politik einmischen.
Impulse 2015 lädt Arbeiten freien Theaters ein, die Gesellschaft nicht nur abbilden, sondern hinterfragen bzw. sich unmittelbar in gesellschaftliche Prozesse einmischen und überprüft so die Rolle, die freies Theater nicht als domestizierte, marktkonforme „relational aesthetics“ sondern als ein politisches und soziales Labor der Gegenwärtigkeit spielen kann. Wie können Theater und Performance ihr wesentliches agonistisches, provokantes Potential entfalten – ein Potential das eben nicht einfach sofort integrierbar ist und sich dem Kaschieren gesellschaftlicher Disfunktionalitäten, Brüchen und Wunden verpflichtet, sondern diese thematisiert, ausspielt und selbst produziert. Zu einem Zeitpunkt, an dem zunehmend der ehemals verpönte Leitspruch „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ eine unerwartete Renaissance auch in eigentlich kritischeren Kreisen erlebt, geht es darum Verhandlungs- und Debattenräume zu eröffnen, in denen Widersprüche nicht nur ausgehalten, sondern vor allem auch formuliert werden können.

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