Ein Job mit unklarem Profil, Ziel und Zukunft

21 November 2012

FLORIAN MALZACHER über die Rolle des Kurators und des Kuratierens in der freien, internationalen Theaterszene

Um den Künstler herum, um die Kunst herum. Im Gemenge der Berufe, die zwar nah dran sind oder gar mittendrin, aber nicht selbst künstlerisch, nicht unmittelbar selbst künstlerisch, hat der Kurator das jüngste und unklarste Profil. In der bildenden Kunst, wo er innerhalb kurzer Zeit zum Star avancierte, steht er zwar im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung, die er im wesentlichen selbst führt. In Tanz, Theater, Performance aber ist er noch immer selten und vor allem: weitgehend unbeachtet. Was umso überraschender ist, als er in den freien performativen Künsten längst eine wirkmächtige Rolle spielt bei der Definition und Organisation von Kunst, Diskursen, Formaten, Finanzen.

Begriffe als Mangelware
Nun gehört es zum Jobprofil vieler Jobs im freien, experimentellen, internationalen Theater (also jenem Theater außerhalb der fixierten Strukturen und relativ fixierten Ästhetiken der meist nur innerhalb ihrer Landes- und Sprachgrenzen wirkenden Stadttheater), dass es kein klares Jobprofil gibt. Was macht ein Dramaturg ohne Drama, ein Kritiker ohne Kriterienkatalog, ein Tänzer ohne Tanz, ein Regisseur ohne zu inszenierenden Text? Dem Theater-Kurator aber steht nicht einmal ein veraltetes Referenzmodell zur Verfügung: Begriff und Berufsbild wurden aus der bildenden Kunst entliehen, weil ein bestimmter Umgang mit Formaten, mit Kunst und Künstlern, aber auch Ökonomien und Öffentlichkeiten plötzlich übertragbar schien.
Zuvor hatte sich in den Achtzigern, frühen Neunzigern ein Gutteil der freien Theaterlandschaft grundlegend verändert: Radikale neue Ästhetiken, später auch neue Arbeitsgefüge- und Hierarchien innerhalb von Ensembles, Kollektiven und Kompanien entstanden parallel zu neuen oder neu definierten Häusern und Festivals. Vor allem das Konzept der Kunstencentra, die mit ihren offenen, meist interdisziplinären Ansätzen vielen der Stars von heute (Keersmaeker, Lauwers, Fabre…) den Weg ebneten und Publikum neu sortierten, schwappte von Belgien und Holland auf benachbarte Länder über und ermöglichte, die Institution des Theaters neu zu denken.
Mit ihnen kam ein neues, oft charismatisch ausgefülltes Berufsbild: Das des Programmmachers (der je nach Institution offiziell Künstlerischer Leiter, Intendant, Dramaturg, Direktor, Produzent hieß). Schon der Name zeigt: Die Betonung lag auf zupackendem Handeln. Eine Generation von Machern bestimmte das Geschehen – und auch wenn deren Gestus aus heutiger Sicht zuweilen etwas Patriarchalisches hatte, war die Szene doch weniger männerlastig als die Gesellschaft und die Stadttheater drumherum. Diese Gründergeneration, die nebenbei auch das Modell des Dramaturgen umdefinierte und importierte, etablierte bemerkenswert effektive und stabile Strukturen und Öffentlichkeiten: es war eine Zeit des Erfindens und Findens, die deutlich bis heute fortwirkt. Arbeitsprofile wurden geschaffen und verändert – auch das des Künstlers selbst.
Diese Gründungsarbeit war (zumindest im Westen) spätestens Mitte der Neunzigerjahre weitgehend abgeschlossen, nicht zuletzt auch weil die finanziellen Ressourcen geringer wurden. Es folgte eine Generation der ehemaligen Assistenten, gewissermaßen der kritischen Lehrlinge, und mit ihnen eine Zeit der Kontinuität, aber auch des Ausdifferenzierens, der Reflexion, der maßgeschneiderten Netzwerke, des Entwickelns und wieder Hinterfragens neuer Formate – Labs und Residencies, Sommerakademien, Parcours, Mini-Themenfestivals, Nachwuchsplattformen… Die Mühen der Ebenen ersetzten die Mühen der Berge, das Ringen um Qualitätskriterien und Diskurse den zuweilen soziokulturellen Gründungsimpetus, sehr unterschiedliche Kulturen oft gleichberechtigt nebeneinander zu ermöglichen.
Noch prägen Zwischenmodelle das Bild, aber die starke Spezialisierung der Künste (die von der bildenden Kunst vorgelebt wurde), die dadurch notwendige Spezialisierung von Programmmachern und Dramaturgen, aber auch eine allgemein veränderte Berufswelt, die zunehmend auch hier auf freie, unabhängige, aber billigere Arbeitskräfte setzt, sowie immer ausdifferenziertere Öffentlichkeiten fordern abermals ein anderes Berufsbild: Der Kurator ist das Symptom dieser Veränderungen der Kunst, aber auch der Gesellschaft und des Marktes. Sein Arbeitsfeld sind Theaterformen, die oft nicht in etablierten Strukturen realisierbar sind; künstlerische Handschriften, die stets andere Herangehensweisen erfordern; eine immer internationalere, disparatere Szene; die Kommunikation oft nicht leichter Ästhetiken; die Vermittlung, die Kontextualisierung. Nicht zuletzt ist er das Bindeglied zwischen Kunst und Öffentlichkeit.
Ob der geklaute Begriff des Kurators für diesen Job am besten geeignet ist, darüber wird derzeit gern gezankt oder vor allem: polemisiert. Doch es geht um mehr als einen Distinktionsgewinn für sich verkannt fühlende Programmmacher. Und die Schwierigkeit, den neuen Job zu benennen und zu definieren ist symptomatisch für ein Genre, in dem Begriffe ohnehin Mangelware sind, ja, das nicht einmal selbst einen vernünftigen Namen hat: Experimentelles Theater? Freies Theater? Alles vorbelastet oder missverständlich. Time based Art? Live Art? Immerhin Versuche, die Genres nach anderen Grenzen zu definieren. Devised Theatre, also ein Theater, das stets von null entwickelt werden muss? New Theatre, noch immer? Postdramatisches Theater? Zumindest mal ein erfolgreiches, vermarktbares Schlagwort. Aber wie passt da jener Tanz drunter, der in den vergangenen Jahren so einflussreich war, der aber ebenfalls noch immer einen passenden Namen sucht: Konzeptueller Tanz?
Man mag als Klandestinromantiker die fehlende Schublade für einen subversiven Gewinn halten und sie so erst zimmern – ein elitäres Nischendenken weniger aus Selbstbewusstsein als aus defensiver Resignation. Tatsächlich aber verweist der Mangel an Begriffen vor allem auf einen Mangel an Verschriftlichung, einen Mangel an Kommunikation, die sich nicht auf Werbung beschränkt, einen Mangel an nicht rein intradisziplinärem Diskurs in den performativen Künsten, die in dieser Hinsicht verblüffend sprachlos sind. Und begründet so wieder die Notwendigkeit kuratorischer Arbeit, die – wie in der bildenden Kunst zu sehen, wo beispielsweise Kataloge integraler Bestandteil fast jeder Ausstellung sind – zu einem guten Teil aus Verbalisierung, Vermittlung, Diskussion besteht. Als Teil der zentralen Aufgabe, Kontexte zu schaffen.

Konkrete Kontexte
Kontexte. Verbindungen zwischen Künstlern, Kunstwerken, Zuschauern, Kulturen, sozialen und politischen Realitäten, Parallelwelten, Diskursen, Institutionen. Nicht zufällig ist der Kurator in der bildenden Kunst zu einer Zeit in Erscheinung getreten als Kunstwerke ohne Kontext oft nicht mehr funktionierten, nicht mehr funktionieren wollten. Als sie im Gegenteil begannen, sich eben gerade über ihre Kontexte zu definieren, sie sich selbst zu suchen oder gar zu kreieren und die sie umgebenden Institutionen kritisch zu hinterfragen. Als die Idee des auratischen Werkes und des auratischen Autors verschwand zugunsten einer Kunst, die ohne Relation nicht mehr zu verstehen war. Nicht nur die Menge an Information über die und aus der Welt, auch die Komplexität der Kunst war exponential gewachsen – und die Menge der Kunst, die produziert wurde. Der Kurator war sowohl eine der Ursachen als auch eines der Resultate dieser Entwicklung. So bewegt sich der häufige Wunsch von Künstlern in Tanz und Theater (und nicht grundlos weit seltener in der bildenden Kunst), ihr Werk unerläutert, alleine stehend, ohne Rahmung zu präsentieren auf dem schmalen Grat zwischen berechtigter Furcht vor Einengung, Vereinfachung, Domestizierung einerseits und der Fehleinschätzung der Wirkungsweisen der eigenen Arbeit andererseits. Die Sprachlosigkeit des Genres erstreckt sich auf alle Beteiligten.
Gute kuratorische Arbeit wäre also, das autonome Kunstwerk nicht in seiner Autonomie zu beschädigen, es im Gegenteil darin zu bestärken, und es dennoch nicht für unantastbar zu halten, für zu schwach, für zu schutzbedürftig. Wie nah darf der Rahmen an die Arbeit rücken, wie eng das eine neben das andere gestellt werden, wie aufgeladen das drumherum sein: das sind zentrale Auseinandersetzungen zwischen Künstlern und Kuratoren in der Ausstellungskunst – sie gelten auch für die Programmierung eines Festivals oder eines Hauses. Kontexte können künstlerischen Arbeiten eine richtige Rezeption ermöglichen – aber sie auch entmündigen.
Doch sind Theater- und Tanzaufführungen keine Bilder, transportable Artefakte oder zumindest klar definierte Installationen. Sie sind fast immer aufwendiger, personell, räumlich, zeitlich, finanziell. Das macht die Bestellung einer thematisch passenden Arbeit zumindest schwieriger als in anderen Künsten, wenn nicht unmöglich. Thematische Setzungen können sinnvoll nur aus der künstlerischen Produktion abgeleitet werden, hier und da vielleicht durch die gezielte Inspiration von Künstlern. Auf solche Weise sind thematisch allzu eng geführte Programmierungen zumindest im Großen kaum denkbar. Aber auf der anderen Seite: Sind nicht auch in der bildenden Kunst Ausstellungen, die künstlerische Werke vor allem als Beweismaterial für eigene Thesen nutzen, meist eher widerlich? (Aus einem ähnlichen Grund ist auch ein Großteil kunst/kultur/tanz/theaterwissenschaftliche Literatur eigentlich unbrauchbar.)
Zusätzlich verlangt eine Aufführung in aller Regel die ungeteilte Aufmerksamkeit der Rezipienten für eine von den Künstlern festgelegte Dauer. Die Reihenfolge also, in der ein Besucher den Arbeiten eines Festivals folgen kann, ist im Theater von ihm nur minimal und seltener noch spontan beeinflussbar. Selbst wenn die Programmierung (viel zu selten) sich der Aufgabe stellt, die gezeigten Werke in Bezug zu setzen, sie als gegenseitige Kommentare oder Ergänzungen zu betrachten, sie zu verweben mit Ausstellungen, Theorie, Musik, kann bestenfalls beim Lesen eines Programmheftes, also nur auf dem Papier, das Ganze als Ganzes verstanden werden.
Aber nicht nur die Schwerfälligkeit und Zeitintensität des Mediums, auch jahrhundertelange Programmpragmatik, die mehr mit Besetzungsmöglichkeiten, Vorstellungsdauer und vermeintlicher Verpflichtung zu einer gewissen Breite des Angebots zu tun hat als mit ästhetischen Fragestellungen, hat verhindert, dass das Publikum, die Kritik und auch die meisten Programmmacher einen Blick für Zusammenhänge ausbilden konnten. Auch die Künstler selbst pflegen meist eine isolierte Sicht: Sie sind kaum je gewohnt oder interessiert, die eigene Arbeit im Kontext mit anderen zu begreifen, sich (außer in kleinen Referenzgruppen) in Verbindung zu stellen. Das singuläre Kunstwerk ist – auch wenn es aus Diskursgründen gern geleugnet wird – in der Praxis noch immer das vorherrschende Modell.
Kaum eine Ausstellung hat die Komplexität und Unberechenbarkeit eines Festivals. Theater wird als soziale Kunstform immer ein anderes Verhältnis zu Pragmatik und Kompromiss haben, es wird mehr Zeit und Raum brauchen und damit an Wendigkeit anderen Genres unterlegen sein. Das mag in einer Ära der Geschwindigkeit und Ortlosigkeit ein Marktnachteil sein, wie es zu anderen Zeiten ein Vorteil war. Doch so mühsam und vergleichsweise gering die Kontextualisierungsmöglichkeiten innerhalb eines Festivals oder eines zu Knoten verdichteten Spielplans sind, so effektiv können sie sein. Das Nicht-Kontrollieren-Können ist eine Herausforderung, der man sich produktiv stellen muss, denn das Nicht-Kontrollieren-Wollen schafft nur Langeweile.
Was also kann man sehen, wenn man an einem Abend hintereinander eine konzeptuell klare, aber vermeintlich hermetische Arbeit von deufert&plischke besucht und anschließend ein vermeintlich albernes Cunningham-Stück der norwegischen alt-chaotischen Baktruppen? Wie verändert sich die eine Arbeit im Nachhinein, die andere im Vorhinaus? (Immerhin: eine so genaue Steuerungsmöglichkeit der Wahrnehmungsfolge hat der Ausstellungskurator selten.) Welche Wirkung hat es auf die Rezeption, wenn ein Leitmotiv, ein Thema als Fokus angeboten wird? Welche Referenzpunkte für eine Arbeit können bereitgestellt werden – vielleicht auch historisch, zumindest auf dem Papier oder Video? Welche Erfahrungszusammenhänge schaffen für die Zuschauer bereits die Wahl des Ortes, des Zeitpunktes, der Grafik, der Werbestrategien? Ist es möglich, Theoriesetzungen nicht nur als Petersilie übers Programm zu streuen, sondern tatsächlich mit ihm zu vermischen?
Das sind nur einige beliebige Beispiele dafür, wie sehr wohl Kontexte und Fokusse geschaffen werden können – gegebenenfalls durch das Herausarbeiten kleinerer Abschnitte oder Ballungen im Gesamtprogramm. Schließlich sind auch Biennalen oder Museen in der Regel keine wendigen Schiffe – und spielen doch vermehrt mit ihrer Zeitachse, mit der Idee des Performativen, des Sozialen. Dass die Figur des Ausstellungsmachers, allen voran und fast schon synonym mit dem neuen Typus des Kurators: Harald Szeemann, in den Siebzigerjahren so bedeutsam wurde, das begründet sich ja nicht zuletzt darin, dass die Ausstellung selbst immer mehr zum Ereignis wurde, von Begleitveranstaltungen flankiert oder durchsetzt, sich zuweilen gar verändernd, in der Zeit begreifend. Seine Arbeit hat Szeemann früh mit der eines Theaterregisseurs verglichen. In den Neunzigerjahren übernahm dann häufig die Kunst selbst die Definition des Ausstellungsrahmens und entdeckte sich als sozialen Raum: „Relational aesthetics“ nennt das Nicolas Bourriaud, und Maria Lind spricht von „performative curating“. Viel weiter ins vernachlässigte Kerngeschäft des Theaters kann man kaum eindringen.
So ist der Blick auf den Bogen, auf die Dramaturgie einer Programmierung auch der Versuch einer Rückgewinnung von Terrain für das Theater als Kunstform. Ablauf, Tempowechsel, Intensitätswechsel, Blickwechsel. Auch wenn kaum ein Zuschauer solchen Dramaturgien als ganzes folgen wird, so sind sie doch spürbar. Durch ein Festival kann man gehen wie durch eine Landschaft. Manches ist zufällig, manches ist sinnfällig. Verweilen oder weiterziehen, intuitiv erfassen oder intellektuell wenden. Das Gespenst des Superkurators, des Überkurators, der dreist aus Kunstwerken anderer sein eigenes schafft, braucht man in den performativen ohnehin nicht zu fürchten. Im Gegenteil: Eher fehlt es am Mut überhaupt Bedeutung zu stiften – und das meist nicht aus Bescheidenheit sondern aus Furcht vor der Aufgabe.
Mehr als in andern Künsten spielt der Kontext des Lokalen dabei eine Rolle: Selbst das an avancierten Theaterformen interessierte Publikum ist weit weniger als seine Pendants in Kunst, Film oder Musik über das aktuelle künstlerische Gesamtfeld informiert; es reist weniger und seine Kunstwerke sind schwerer verfügbar bzw. nicht in Katalogen reproduzierbar. In aller Regel (von ein paar Großstädten weltweit abgesehen) definiert also ein einzelnes Haus, ein einzelnes Festival den Horizont des Publikums (und lokaler professioneller Kritik). Das Terrain seiner Beurteilung wird dabei paradoxweise vom Kurator selbst gesteckt – es gibt nur die Kunst, die er zeigt. So werden internationale Arbeiten zwangsläufig lokalisiert und in Bezug gesetzt zu dem, was bekannt ist. The state of the art ist in jeder Stadt ein anderer. Dadurch hat ein lokaler Programmmacher einen denkwürdig großen Einfluss, er stellt die Arbeiten nicht nur in einen vorhandenen Diskurs, mehr als in anderen Künsten kreiert er ihn für sein Umfeld selbst (bestenfalls in Diskrepanz zu seinen Vorgängern). Dabei spielt die Geschichte seines Hauses oder Festivals eine Rolle, natürlich das Niveau der lokalen performativen Künstlerszene (falls überhaupt nennenswert vorhanden), der Entwicklungsstand der angrenzenden Künste in der Stadt – und die spezifische Struktur, Offenheit und Bildung regionaler Publikümer (wie bezeichnend, dass es dieses Wort, das im Singular nicht mehr funktioniert, im Plural nicht existiert).

Kriterien und Kompromisse
Ob lokal, ob international, es bleibt nicht aus: Es geht um Auswahl, es geht darum, wer dazu gehören darf, wer produzieren und zeigen darf, wer Geld verdienen darf. Programmmacher übernehmen eine Funktion im Kunstmarkt, und so unterschiedlich ihre Meinungen im einzelnen sind, gemeinsam definieren sie ein begrenztes Feld. Wen sie nicht sehen, wen sie nicht sehen wollen, der hat – zumindest international – kaum eine Chance gesehen zu werden. Dazu kommt: Noch nie zuvor ist soviel Kunst produziert worden, sind so viele Künstler in Erscheinung getreten. Während die Budgets sinken, werden unverdrossen mehr und mehr Schulen, Master-Studiengänge, Universitätsabteilungen gegründet und Künstler produziert, meist ohne sich wirklich Gedanken darüber zu machen, was diese Überproduktion selbst produziert. Im Hinblick auf den Markt, auf die Qualität – aber auch im Hinblick auf die Lebens- und Arbeitssituationen der ehemaligen Studierenden, die oft nicht gebraucht werden, nicht gewollt sind und nicht selten schlicht nicht gut genug für den konkurrenzumkämpften Markt sind. Die Aufgabe, dieses Feld zu organisieren, die Aufgabe den bad cop zu spielen wird delegiert: Kuratieren bedeutet Ausschließen und dieses Ausschließen hat existenzielle Konsequenzen für Künstler.
Was also sind die Kriterien einer solchen Auswahl? Ja, natürlich: Gute Kunst, schlechte Kunst. Was wir dafür halten. Definiert durch Bildung, Erfahrung, auch Geschmack. Durch Meinung. Durch die Diskurse, an die wir glauben. Allein das schmale Grenzgebiet experimentellen Theaters, dass wir zu unserem Handlungsfeld erkoren haben, ist das Resultat einer weitreichenden Entscheidung.
Sie sind schwer zu benennen, diese Kriterien, und sie setzen sich aus verschiedenen Aspekten zusammen. Was gute Kunst ist, das ist hier und en passant ohnehin nicht formulierbar. Aber auch gar nicht zentral: Der Vorwurf (von Künstlern, von Zuschauern, denen die Auswahl nicht passt) ist ja meist nicht, Kuratoren hätten die falschen Kriterien. Sondern gar keine. Dass Kompromiss, Politik, Nachäffen, Gefallsucht das Programm schrieben. Dass es, wahlweise, zu eng sei oder zu weit.
Tatsächlich ist es ein schmaler Grat zwischen Dogmatik und Beliebigkeit. Er definiert sich durch einen klaren Stil, eine Handschrift vielleicht, durch Kohärenz des Programms, durch eine Dramaturgie des Ablaufs, durch Bezüge. Durch Stringenz. Natürlich ist wahr: Wie die meisten Stadttheater ihr Programm aus allerlei Kunst für allerlei Publikumssegmente zusammenstellen, so sind auch die meisten internationalen Festivals und Spielstätten von einer schwer auseinander zu dividierenden Mischung aus Überzeugung und Pragmatik geprägt.
Die Argumente für eine gewisse Breite sind zahlreich, alle Programmmacher sind darin geschult: Kein Publikum ausgrenzen zu wollen, Kontexte zu schaffen, durch populärere Arbeiten, die gewagtere flankieren, Zuschauerzahlen, Kartenverkauf, Toleranz gegenüber anderen künstlerischen Ansätzen, finanzielle Zwänge und dergleichen mehr. Tatsächlich: Niemandem ist geholfen, wenn ein Kurator mit seinem Programm vor allem den eigenen Mut unter Beweis stellt – letztlich auf Kosten der Künstler. Ein Festival zu etablieren oder zu erhalten, ein Publikum zu binden, Verbündete zu gewinnen und damit den Rahmen zu schaffen auch für konsequentere, mutigere, sperrigere Arbeiten ist wichtig. Gerade weil die Freiräume für Kunst immer weniger werden, weil der Kampf aller Programmmacher ums Überleben ihres Programms immer härter wird. Und weil der Glaube, gut sei nur, was keinem gefällt, durchschaubarer Künstlerselbstschutz ist.
Doch: Was nützt das Erhalten, wenn nicht mehr sichtbar ist, was eigentlich erhalten werden soll? Wenn nicht mehr lesbar ist, was das Notwendige, das Zwingende ist, inmitten des Pragmatischen? Das Modell des Kurators ist auch ein Gegenmodell zum Kulturveranstalter, dem vieles gleich wert ist, der ein weites Feld der Kreativität und künstlerischen Aktivitäten absteckt, dessen Anliegen letztlich ein soziokulturelles ist. Kuratorisches Arbeiten heißt auch, für sich klar zu entscheiden, was gut ist und was schlecht. Und zu wissen warum.
Aber ein gutes Programm besteht nicht einfach und nicht notwendig nur aus guten Vorstellungen. Zum einen ist die Entscheidung für Koproduktionen statt lediglich eingekaufter Gastspiele zwar kulturpolitisch immens wichtig aber auch eine Entscheidung fürs Risiko, die Ergebnisse unwägbar: Lauter richtige Entscheidungen können zu einem schlechten Festival führen, wenn man es ausschließlich auf seine Resultate und nicht auf seine Unterfangen hin liest. Zum anderen geht es darum, Binnenbezüge herzustellen – selbst dann, wenn ein Festival sich keinen thematischen roten Faden gibt. Ob ein Programm gut gedacht ist, liegt an der Kombination verschiedener Formate, Ästhetiken und Argumente innerhalb eines dennoch sehr klar umrissenen Profils. Es liegt aber auch an vermeintlich pragmatischeren, oft aber nicht minder dramaturgischen Überlegungen, die für die Schönheit eines Programms sehr wohl eine Rolle spielen können: Es kann eben tatsächlich sein, dass eine Vorstellung schlicht zu lang ist für einen bestimmten Slot. Oder zu kurz. Oder die falsche Bühne braucht. Das falsche Genre ist. Thematisch, ästhetisch einer anderen zu ähnlich ist. Oder zu unähnlich. Wenn sie es aber wert ist, dann wird man vermutlich eine Lösung finden. Und, ja, es gibt auch das Füllen von Schubladen: Nachwuchsig, unterhaltsam, politisch, konzeptuell, neu, etabliert… Doch auch hier: Sobald man über eine Arbeit stolpert, die man unbedingt zeigen möchte, wird man dieses Gerüst rasch vergessen. Vorausgesetzt man hat noch etwas Geld übrig.
Auch die Frage des Lokalen gehört zur Liste möglicher Kriterien. Welche Möglichkeiten gibt es, infrastrukturell die Szene einer Stadt zu verändern, zu beeinflussen – aber auch sie zu präsentieren, ihr Sichtbarkeit und Konfrontations- oder Wachstumsmöglichkeiten zu geben. Jeder Kurator wird sagen: Auch hier muss vor allem die Qualität stimmen. Und wird dennoch, bewusst oder unbewusst, mit zweierlei Maß messen. Auch das ist ein schmaler Grat: Ohne lokale, auch nachhaltige Wirkungen ist ein international ausgerichtetes Haus oder Festival weitgehend ohne Wirkung und ohne Rückhalt in schwierigen Zeiten. Umgekehrt droht aus besten Motiven heraus schnell Provinzialität und überregionale Bedeutungslosigkeit.
Während künstlerische Arbeit von Konsequenz und größtmöglicher Kompromisslosigkeit lebt, wird ein Festivalprogramm, ein Saisonprogramm, ja selbst ein kleiner Parcours immer den Kompromiss als Geburtsmerkmal in sich tragen. Auch deshalb ist der Kurator kein Künstler. Diese Diskrepanz ist wesentlich und oft schmerzlich unauflösbar. Nicht nur weil Kuratoren oft zu schnell zu Zugeständnissen bereit sind. Und nicht nur weil Künstler selten gute Kuratoren sind: Ihr Blick fast immer zu eng (weil durch die eigene ästhetische Kompromisslosigkeit geleitet) oder zu weit (weil von sozialem, solidarischem Denken und Fühlen geleitet).
Es gibt keinen Grund, den Kompromiss mit heroischem Macherpathos zu verklären („Der Lappen muss hoch“). Aber er wird immer Konfliktgegenstand sein – gerade da, wo die Kunst selbst existenziell, radikal, sich selbst riskierend ist. Das Streben nach Unbedingtheit stößt sich an der Notwendigkeit, am Ende ein schlüsselfertiges Produkt vorzuweisen. All die neuen Module prozesshafen Arbeitens, all die Labs und Residencies sind nur Ventile, die das Problem am Ende aber verfehlen: Es geht ja nicht darum, nicht fertig werden zu wollen oder können. Es geht darum, dass „fertig“ für jedes Projekt anders definiert werden müsste.

Welcher Markt?
Als Programmmacher gibt man einen Teil der Zwänge, den man nicht abfangen kann, an die Künstler weiter. Wo ist die Grenze? Wie lange kämpfen, wann aufgeben? Wie lange ist es gut, etwas zumindest reduziert zu bewahren, wann ist es besser konsequent zurückzutreten? Was ist vorauseilender Gehorsam gegenüber Politik und Geld? Was querulantisches Don-Quijotentum?
Der Markt des freien Theaters, letztlich des Theaters insgesamt, ist ein abgefederter, ist weitgehend durch öffentliche Gelder und Stiftungen geregelt. In letzter Zeit kommen zunehmend Sponsoren ins Spiel, deren Rolle in Europa meist aber noch zu begrenzt ist für einen nennenswerten Einfluss auf die Programmierung: Dass das Dublin Fringe Festival neuerdings – seit dem Einstieg eines Wodkaproduzenten als Hauptsponsor – Absolut Fringe heißt, ist ein ungewöhnlicher Fall, vielleicht ein Hauch von Zukunft. Meist ist der Markt zu klein, das Publikum zu marginal, der Gewinn zu überschaubar, das Genre zu wenig sexy für Investoren. Und auch der freie Kunstmarkt greift kaum auf das flüchtige Medium zu: Eine Vorstellung kann man nicht kaufen und an die Wand hängen, man kann nicht sammeln und wertsteigern, nicht einmal das Renommee gewinnt in besonderem Maße. Weshalb die Künstler der Performance Art (im Unterschied zu den Performing Arts) seit den Siebzigerjahren gemeinsam mit ihren Galerien sehr darauf achten, dass ihnen – indem sie die Dokumentation auf Video oder Foto in den Artefaktstatus erheben – das behauptet Ephemere nicht zum finanziellen Nachteil gereicht. Eine Live Art ist die Performance Art eben nur für den kurzen Augenblick, bevor die immaterielle Arbeit zum Objekt gerinnt. Theater- und Tanzmacher hingegen haben kaum Zugang zum freien Markt, zu dieser Form der Altersversicherung. Was zumindest den Vorteil hat, dass ein Kurator (oder Kritiker) hier keinen Profit mit den Werken der Künstler machen kann, die er fördert – dieser Teil möglicher Korruption bleibt erspart.
Andererseits mag manch bildender Künstler mit Neid auf den Subventionsmarkt von Tanz und Theater schauen, scheint er doch einen Schutz vor dem zuweilen hysterischen Kapitalismus des freien Kunstmarktes zu bieten. Aber die Achtzigerjahre sind lang her: Mehr und mehr werden die ohnehin sinkenden Subventionen zum Erhalt immobilien- und personalschwerer Institutionen aufgebraucht, für die schlanke freie Szene bleibt nicht viel übrig. Wo westeuropäische Länder zumeist noch zehren können von den Errungenschaften früherer Jahre, sind Länder, die keine infrastrukturelle Sicherheitsnetze knüpfen konnten, den Höhen und Tiefen der Wirtschaft unmittelbar ausgeliefert. Der Schutz des Subventionsmarktes entpuppt sich nun auch als Käfig, da kaum ein Ausgleich mit den Mitteln des freien Marktes möglich ist.
Dennoch gibt es natürlich auch im Theater einen individuellen Marktwert, dennoch spielt es natürlich eine Rolle, auf welchem Festival, in welchem Theater man zu sehen ist. Die Nachfrage regelt den Preis allerdings nur bis zu einem gewissen Grad, das Gagengefüge bleibt vergleichsweise überschaubar. So wird der Marktdruck an seinen Spitzen gekappt – geringer wird er für die Künstler, die großenteils nicht nur als Anfänger prekäre Existenzen sind, nicht. Der Kurator, der Programmmacher, der Intendant ist in der Sicht vieler Künstler – bei aller Freundschaftlichkeit – Teil eines Demütigungssystems, das obskur bleibt, da seine Kriterien weder von Kuratoren noch von Künstlern hinreichend reflektiert werden. Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard schrieb einst an seinen Verleger Siegfried Unseld, das Hauptproblem läge darin, dass jeder Verleger viele Schriftsteller, jeder Schriftsteller aber nur einen Verleger habe. Ein Theatermacher mag ein paar mehr Produzenten haben – das ungleiche Abhängigkeitsverhältnis, ökonomisch, psychologisch, bleibt ähnlich.
Doch offenkundig sind auch die Programmmacher nicht unabhängig. Das Geld, das sie verteilen oder vielleicht investieren, bekommen sie von ihren, meist politischen, Arbeitgebern (und die wiederum haben es via Steuern vom Volke). Direktem inhaltlichen Druck auf die konkrete Programmierung sind sie, zumindest im Westen, selten ausgesetzt; ihren Einfluss machen Politik und Öffentlichkeit gewöhnlich nicht mehr im Hinblick auf konkrete Kunst und konkreten Diskurs geltend – kaum einer mag noch als konservativer Ignorant gelten. Die Weichen werden diskreter schon vor der Berufung oder durch die Berufung der künstlerischen Leitung gestellt, anschließend wird statt über Inhalte und Ästhetiken lieber über ökonomische Faktoren, Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit, Auslastungszahlen diskutiert. Wenn sich Festivals und Häuser schon nicht rechnen können, so sollten sie zumindest umwegrentabel sein: Städtemarketing, Image, Tourismus, Hotelbetten… Doch sich auf eine Argumentation mit Richard Floridas „creative class“-Rhetorik einzulassen, ist für künstlerische Institutionen gefährlich – zum einen lässt sich die Reduzierung der Kunst auf Zahlen nur schwer rückgängig machen, zum anderen sind wirtschaftliche Argumentationen oft ohnehin nur vorgeschoben, dahinter liegt der selbe alte Zweifel an der Notwendigkeit einer zeitgenössischen Kunst, deren Stellenwert mit dem Verschwinden der zuvor belächelten Bildungsbürger in der Politik drastisch gesunken ist.
Tatsächlich tragen Programmmacher nun mal die Verantwortung für das Geld, das ihnen anvertraut ist. Vertraglich sind sie in der Regel öffentlichen Geldgebern (zumindest indirekt via politisch besetztem Aufsichtsrat) verpflichtet. Und moralisch? Den Künstlern? Der Kunst? Dem Publikum? Das Dilemma wird verstärkt durch die Tatsache, dass es anders als in der Welt der Museen nur selten einen Unterschied zwischen Direktor und Kurator gibt – vor allem freie, häufig wechselnde Kuratoren mit mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit sind selten. So lastet der politische Zahlendruck direkt auf der Person, die das Programm gestaltet – mixed loyalties sind unvermeindlich. Das Modell des Kurators wäre also gezielt nicht das eines Direktors; er wäre primär den Künstlern, der Kunst, bestimmten Diskursen, bestimmten Ästhetiken verpflichtet. Mehr eine (vielleicht naive) Denkfigur als Realität. Ein Konstrukt, immerhin.
Vielleicht aber ist das Problem ohnehin weniger, dass es Ungleichheit, dass es Ungerechtigkeit gibt, dass dem Verhältnis zwischen Kuratoren und Künstlern immer eine heimliche Agenda unterliegt, dass ihre Beziehung eben immer auch eine ökonomische ist. Vielleicht ist das Problem vielmehr, dass es ausgerechnet im Theater, dieser großen Welt- und Selbstreflexionsmaschine keine ausreichende Reflexion über die Mechanismen gibt, denen wir als Programmmacher ausgesetzt sind, die wir aber auch bedienen und zuweilen selbst erzeugen. Dass wir uns zu schnell mit dem Glauben trösten, ohne uns wäre alles noch schlimmer, dass wir noch immer das Beste aus schlechter werdenden Situationen herausholen.

Wir sind Produkte dessen, was Slavoj Zizek „cultural capitalism“ nennt: Wir trinken den Starbuckskaffee der Kunst und sind froh, dass ein Teil unseres Geldes den Regenwald (also beispielsweise: Konzeptuellen Tanz, Nachwuchs, Research) schützt. Ein quasi-richtiges Handeln, das aber letztlich vor allem das System schützt, dessen Stachel wir abzufeilen glauben. Es ist das selbe System, in dem wir die Mängel erst produzieren, die wir dann mildern. Wir wollen Macht, die als solche nicht erkennbar sein soll.
So ist kaum etwas, das den Beruf des Kurators in den performativen Künsten ausmacht, für sich gesehen neu. Und dennoch ist es wichtig zu sehen, wie sich das Berufsbild unterschiedet von den anderen Genres, aber auch vom Programmmacher der Gründergeneration. Von dem des Produktionsdramaturgen. Von dem der Intendanten, künstlerischen Leiter, Direktoren. Die freien, performativen Künste, diese Nischenkünste ohne richtigen Namen, brauchen Versprachlichung, Kontextualisierung, Diskurse, Öffentlichkeit, um den Platz unter den zeitgenössischen Künsten beanspruchen zu können, den sie verdienen. Der Kurator ist eines der Symptome einer Veränderung. So gesehen geht es tatsächlich um einen Distinktionsgewinn. Weniger allerdings für diejenigen die sich Kurator nennen, als für eine Kunstform, die mehr sein muss als ein exotisches Anhängsel der Stadttheater.

Leicht überarbeitete Fassung eines Textes für Theater Heute 04/2011. Die englische Originalfassung erschien in Frakcija 55 „Curating Performing Arts“ (Hg. Florian Malzacher, Tea Tupajic & Petra Zanki, Herbst 2010)

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