Stille versus Zittern: die Macht des Schweigens als öffentlicher Akt

14 Juni 2013

AVI FELDMAN über die Entstehung des Israelischen Holocaust-Gedenktags Jom haSho’a und Yael Bartanas “Zwei Minuten Stillstand”

Das Gedenken am Jom haScho’a, dem Israelischen Holocaust Gedenktag, scheint alle Strömungen der israelischen Gesellschaft zu einer Demonstration der Einheit zusammenzuführen. Das im ganzen Staat zu hörende Heulen der Sirenen ergreift fast gewaltsam eine große Mehrheit der Bevölkerung. Die Menschen bereiten sich sorgfältig auf die zwei Minuten Schweigen vor, die traditionsgemäß um 10 Uhr morgens beginnen. Sie schauen aufmerksam auf die Uhr, schauen sich zögernd um. Niemand möchte überrascht werden, wenn es darum geht, den Opfern des Holocaust zu gedenken.

Es ist aber kein spontaner Wunderakt des Respekts, sondern vielmehr ein Zeichen für die dauerhafte Anerkennung von Rechtsstaatlichkeit in Israel. Schon 1951 wurde ein Gesetz zum Holocaust Gedenktag erlassen, das vom ersten israelischen Premierminister David Ben-Gurion unterzeichnet wurde. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass man sich erst nach langen Parlamentsdebatten auf ein Datum einigen konnte, was Schlaglicht wirft auf widersprüchliche Positionen im Zusammenhang möglicher Wechselwirkungen zwischen nationaler und jüdischer Identität.

Das ursprüngliche Gesetz wurde vom israelischen Parlament, der Knesset, mehrmals geändert. Zuerst beinhaltete der Titel auch die Anerkennung der Ghetto-Aufstände und sogar noch in seiner geänderten Fassung von 1959 lautete der englische Titel des Gesetzes Martyrs and Heroes Remembrance Day Law (Tag zum Gedenken an die Märtyrer und Helden). Auf der Website der Knesset werden die ursprünglichen verschiedenen Absichten umrissen, „um den Gedenktag in Übereinstimmung mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto” zu erläutern. Da dieser Termin aber mit dem jüdischen Pessach-Fest zusammenfiel, wurde er wieder verworfen. Der Gesetzgeber setzte schließlich ein Datum fest, das „sechs Tage nach Pessach gemäß der Zeitrechnung des Omer“ lag. Eine Zeit der Trauer für das Volk Israel. Eine Woche später wird der Gedenktag für die gefallenen israelischen Soldaten und Opfer des Terrorismus und Nationaler Unabhängigkeitstag begangen.

Zumindest trug das gewählte Datum der jüdischen Tradition Rechnung, auch wenn es kein jüdischer Fastentag an sich ist. Man einigte sich auf einen Kompromiss: Ein frühes Beispiel für die individuelle Gestaltung israelischen Republikanismus, angesiedelt zwischen den Vorstellungen von Religion und Nation. Die gesetzliche Festlegung von Jom haScho’a als säkularer Nationalfeiertag trug zur Bildung des Begriffes von Mamlakhtiyut bei (eines zionistischen Republikanismus). Ben-Gurion prägte diesen neuen hebräischen Ausdruck in seinem Bestreben, den Gedanken von Republikanismus begrifflich zu erfassen. Als Meilenstein israelischer Eigenstaatlichkeit beinhaltet „Mamlakhtiyut die Wurzeln isaelischer Zivilstärke. Dies erklärt die Widerstandsfähigkeit – trotz aller Widrigkeiten – von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und sozialer Stabilität Israels”. (Israeli Republicanism Avi Bareli, Nir Kedar 2011, The Israel Democracy Institute).

Dennoch gibt es eine kleine Gruppe Israelis, die genau an diesem Tag ausgelassen feiern: „Ultraorthodoxe Grillparty am Holocaust Gedenktag“ war dieses Jahr die Überschrift in The Jerusalem Post. „Hunderte ultraorthodoxe Haredi Juden feierten, während zur gleichen Zeit der israelische Präsident seine Rede in Yad Va’shem hielt” wurde in der Fernsehnachrichtensendung von Channel2 TV berichtet. Yona Metzger, der aschkenasische Oberrabbiner Israels, brachte in einem Radiointerview seine Kritik öffentlich zum Ausdruck, indem er solche Handlungen verurteilte. „…Es gibt keinen Grund für einen Juden, während die Sirenen heulen nicht still zu halten und Kapitel aus den Psalmen zu rezitieren. …” sagte der Oberrabbiner. Seine Botschaft war eindeutig – in der Öffentlichkeit muss man den Vorschriften des Staates gehorchen und sich einfühlsam verhalten, indem man Auszüge aus der Bibel liest.

Die Haltung einiger Sekten ultraorthodoxer Juden zu Jom haScho’a ist auf alte Divergenzen zwischen ultraorthodoxen Juden und der zionistischen Bewegung zurückzuführen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts opponierten führende Rabbis gegen den Zionismus und den Jüdischen Staat. Sie sahen darin eine Gefährdung jüdischer Traditionen und einen Schritt in Richtung Säkularisierung und Assimilation. Diese frühen Konfliktpositionen haben sich in Israel bis in die Gegenwart erhalten. Sie tragen zur gegenwärtigen Debatte über die Identität Israels bei und einer möglichen Konvivenz zwischen einem hybrid demokratischen und einem jüdischen Staat. Nichtsdestotrotz steht dieser Tag des Gedenkens, der von der großen Mehrheit israelischer Bürger begangen und lediglich von einer kleinen Gruppe Ultraorthodoxer abgelehnt wird, für die Vollendung eines demokratischen Säkularregimes.

Daher ist die Botschaft der Künstlerin Yael Bartana in „Zwei Minuten Stillstand“ sehr stark. Das Gedenkritual, das von Israel nach Köln exportiert wird und von dort vielleicht irgendwann in den Rest Deutschlands, spricht sich für die Unterstützung des demokratischen Rechtsstaates und des Säkularismus aus. Es ist ein Aufruf zur Gemeinschaft unter allen Völkern und zur Bildung gegenseitigen Verständnisses bei Inanspruchnahme des öffentlichen Raumes. Da sich Deutschland – wie übrigens der Rest Europas – angesichts wachsender Immigration aus nicht christlichen Ländern, um eine kulturelle Identität bemüht, stellt die Anregung einer Künstlerin zu einem neuen Gedenktag gegen Faschismus ein Angebot dar, das zur weiteren Etablierung einer säkularen Gemeinsamkeit führt. Es ist als Zwischenstufe in Richtung Erschaffung eines zivilen öffentlichen Aktes anzusehen, der Unterschiede anprangert zugunsten der Bildung einer gleichberechtigten Anti-Diskriminierungspraxis und eines unparteiischen partizipatorischen Raumes.

Der israelische Oberrabiner ruft zum Lesen der Psalmen während der zwei Minuten Schweigen auf, als ob er sich der starken Wirkung entziehen wollte, die dem ruhigen Stillstand innewohnt. Für religiöse Menschen, wie die ultraorthodoxen Haredi Juden, ein hebräisches Wort, das Zittern auch mit Furcht übersetzt, kann Schweigen mit Angst und Verunsicherung einhergehen. Als Gegensatz dazu und als Akt des Vertrauens möchte Bartana die deutsche Öffentlichkeit aus der obligatorischen Routine des Alltags zum kurzen Stillstand anregen. In einem rein demokratischen Akt, der seine Wurzeln im frühen israelischen Republikanismus hat, überlässt Bartana allen Menschen die Freiheit, über gegenwärtige und zukünftige gemeinsame Bürgeraktionen nachzudenken, sie zu gestalten und unerschrocken zu entscheiden während man zwei Minuten angstfreier Stille teilt und aushält.

Bartanas Angebot an die Stadt Köln ist eine Herausforderung an die Angst der Ultraorthodoxen, und ist zugleich eine Maßnahme, um ein vom Staat gesetzlich geregeltes Gedenken neu zu definieren. Es tritt in die Fußstapfen verschiedener Gruppen säkularer Juden in Israel, die jenseits nationaler und religiöser Einschränkungen in den letzten Jahren nach neuen Bedeutungen für Jom haScho’a suchen. 1990 fand zum Beispiel die erste Alternative Jom haScho’a Zeremonie statt. Fast wie eine heimliche Untergrundveranstaltung fand sie im Tmuna statt, der Spielstätte Freier Theatergruppen in Tel-Aviv. Was als subversive private Initiative begann, hat seitdem Jahr für Jahr viele hundert Menschen angezogen. Sie kommen zum nationalen Jom haScho’a zusammen, um Diskussionen und Lesungen von Gelehrten beizuwohnen und Vorstellungen lokaler Künstler zu sehen.

„Zwei Minuten Stillstand“ kann also den Beginn einer neuen Tradition in Deutschland einläuten. Seit ihrem Einkanal-Video Trembling Time (2001) stellt Bartana nationale Rituale in Frage, diesmal in Form einer Performance. Indem sie ihre künstlerischen Vorstellungen und ihre künstlerische Praxis in den öffentlichen Raum bringt, verlegt Bartana ihre Beobachter-Position, die bereits als „Amateuer-Anthropologisch” bezeichnet wurde, zu einer live Intervention und eröffnet somit vielleicht neue Wege für zivile Teilnahme und Gedenken in Deutschland.

In Montréal, Kanada, geboren und in Israel aufgewachsen, studierte Avi Feldman Geschichte, Philosophie, Kunst für sozialen Wandel und Jura. Als Stipendiat des Instituts für Auslandsbeziehungen e.V. (ifa) in Stuttgart und nach einer Residenz am Neuer Berliner Kunstverein (NBK), lebt Avi Feldman zwischen Tel Aviv und Stuttgart, wo er als Kurator und Schriftsteller tätig ist.

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