Wir müssen alternative Momente des Gedenkens schaffen

14 Mai 2013

Ein Gespräch mit YAEL BARTANA über „Zwei Minuten Stillstand”

„Zwei Minuten Stillstand” will das Leben in Köln für zwei Minuten unterbrechen. Welche Idee steht hinter dieser kollektiven Performance?

Ich habe darüber nachgedacht, was es bedeuten würde, das Ritual des Jom haScho’a – des israelischen Gedenktages für die Opfer und Helden des Holocaust – an Deutschland auszuleihen. Jedes Jahr an diesem Tag tönen die Sirenen auf den öffentlichen Plätzen überall in Israel und das ganze Land hält inne und schweigt für zwei Minuten.
Seit vielen Jahren untersuche ich in meiner Arbeit staatliche und soziale Rituale, um besser zu verstehen, wie sie eine nationale Identität formen. Meine erste Arbeit zu diesem Thema war Trembling Time (2001), ein Video über den Jom haZikaron, den israelischen Soldaten-Gedenktag, der im Prinzip genauso funktioniert wie der Jom haScho’a. Diese Rituale sind nationale Zeremonien, die im Gesetz verankert sind. Mit Trembling Time habe ich versucht zu einer distanzierteren und gleichzeitig persönlicheren Interpretation dieses sehr emotional aufgeladenen Rituals zu kommen. Was bedeutet es für jeden einzelnen – was bedeutet es für mich als Bürger des Staates Israel – mit solchen kollektiven Ritualen aufzuwachsen? Wie kann man in solchen Situationen individuell und selbst-verantwortlich bleiben?

Sind dann kollektive Erinnerungen überhaupt sinnvoll? Oder ist das etwas, das man eigentlich nur alleine und individuell begehen kann?

Nun, der Zweck davon ist, eine nationale Erzählung zu schaffen, eine staatliche Identität – das gibt es ja nicht nur in Israel. Ich bin nicht dagegen, aber ich möchte das hinterfragen und analysieren.

Die Regularien, wie man zu gedenken hat, sind inzwischen sehr klar definiert, es gibt nur einen schmalen, etablierten Pfad, auf dem man sich bewegen kann. Das bedeutet auch, dass das Gedenken eine vorformulierte Routine wird – anstatt erlebt und gelebt zu werden.

Ich bin davon überzeugt, dass Deutschland alternative Momente des Gedenkens schaffen muss, die auch Neuankömmlinge einschließen – Rituale, die sich auf die Gegenwart und die Zukunft beziehen, nicht nur auf die Vergangenheit. In den letzten Jahren sind tausende junger Israeli nach Deutschland gezogen. Und viele von ihnen leben – wie ich – in gemischten Beziehungen. Das macht es nur noch mehr offensichtlich: Wir müssen uns mit unserer Geschichte gemeinsam auseinandersetzen. Statt über Schuld zu reden, geht es eher darum, uns bewusst zu sein, was jetzt um uns herum passiert: Wir sollten der Vergangenheit gedenken aber zugleich verstehen, was in der Gegenwart geschieht. So können wir die Kettenreaktion verstehen, die der Zweite Weltkrieg bis heute im Nahen Osten und in Europa verursacht hat – zum Beispiel, dass im heutigen Deutschland eine terroristische Bewegungen wie der NSU existieren kann, die sich selbst in der Tradition des Dritten Reiches begreift.
In dieser Hinsicht möchte die Performance den Akt der Erinnerung für andere Kulturen zugänglich machen – und nicht die Bedeutung des Holocaust mindern. Sie will den Tragödien, die heute stattfinden, ebenso Aufmerksamkeit geben und Respekt zollen. Nur so können wir der Vergangenheit eine Bedeutung für die Gegenwart geben.

Besteht nicht die Gefahr, die Verbrechen und Schrecken, die Deutschland während der NS-Herrschaft verursacht hat, zu relativieren, wenn man sie auf diese Weise in Verbindung setzt mit anderen Ereignissen, wie den Morden des NSU?

Es scheint, dass es für einige Menschen in Deutschland als politisch inkorrekt gilt, eine Linie zwischen dem Nationalsozialismus und dem NSU zu ziehen. Genauso wie es unmöglich scheint, Juden, Roma und Homosexuellen als Opfern des Nationalsozialismus gemeinsam zu gedenken. Vielleicht ist das richtig und jeder braucht sein eigenes Gedenken. Und natürlich wird das eine wichtige Diskussion bleiben: Wie gedenkt man ohne zu relativieren? Aber eben auch ohne andere auszuschließen. Schließlich: Es geht nicht um Zahlen. Und der NSU ist eine aktive faschistische Bewegung im heutigen Deutschland. Wir reden also von einer Ideologie, die noch am Leben ist.

Der Fall des NSU weist genau auf den Kern des Problems: Wie konnte er so lange Zeit aktiv sein, ohne als rechtsextreme Terrorzelle identifiziert zu werden? Das wäre im Fall von linkextremen oder islamistischem Terror nicht passiert… Allem Anschein nach hat die – generell ja große – Sensibilität gegenüber der deutschen Geschichte in diesem Fall nicht geholfen – oder hat uns sogar noch blinder gemacht: Wir können rechtsextremen Terror zwar leicht erkennen, wenn er in hergebrachter Form wiederkehrt. Aber wir erkennen ihn nicht, oder wollen ihn nicht erkennen, wenn er auf andere Weise erscheint.

Wir gedenken nur, aber haben nicht gelernt, die Gefahren der Gegenwart zu verstehen.

Gibt es nicht auch eine Gefahr der Instrumentalisierung des Holocaust in dieser Arbeit?

Es gibt heute auch in Israel viele interessante Möglichkeiten für diejenigen, die sich von den offiziellen Zeremonien des Holocaust-Gedenktages nicht mehr inspiriert fühlen. Künstler, Intellektuelle, Journalisten, Musiker nutzen die Bühne, um persönliche Gedanken und Überlegungen zum Holocaust mit anderen zu teilen. Die Performance in Köln ist kein Akt, den Holocaust zu instrumentalisieren, sondern ein Akt, den Fokus auch auf alternative Rituale zu lenken.

Ist das nicht ein Widerspruch: Auf der einen Seite sind die existierenden Rituale leere und oberflächliche Aufgaben geworden, die man zu erfüllen hat. Auf der anderen Seite schlägst du nun ein neues Ritual vor.

Aber es ist kein Ritual. Es hat die Form eines Rituals, aber es ist tatsächlich eine Performance im öffentlichen Raum. Es ist ja kein bestehender deutscher Feiertag. Wenn es das eines Tages würde, dann wäre das natürlich eine ziemliche Errungenschaft – denn es wäre ein Feiertag, der von den Menschen initiiert worden wäre. Aber für jetzt ist es eine Performance, ein Experiment – ein Ruf nach Aufmerksamkeit.

Der Jom haScho’a ist ja eine sehr frühe Erfahrung im Leben – lange bevor man das kontextualisieren oder intellektuell verstehen kann. Zuerst versteht man das also mit seinem Körper, wird es in einen eingeschrieben.

Ja, es ist eine sehr physische und emotionale Erfahrung und für ein Kind auch ein bisschen peinlich. Es ist eine sinnliche Erinnerung des Körpers. Als Kind verstehst du nicht, warum du still stehen und ruhig sein musst, aber es ist eine sehr starke Erfahrung.
Und es ist ein eindeutig performativer Moment – der als solcher öffentlich stattfinden muss: Manche Leute gehen auf den Balkon, wenn die Sirenen ertönen. Du könntest in der Wohnung bleiben, aber das zählt nicht. Es muss sichtbar sein.

Für Impulse ist das natürlich ein wichtiger Aspekt. Schließlich ist „Zwei Minuten Stillstand” teil einer Theater Biennale: Es ist ein kollektiver, performativer Moment – und er reicht zurück zu den Wurzeln des Theaters als Ritual. Und es ist ein ernsthafter Moment, dessen Performativität kein Nachahmen ist, kein theatrales „als ob”. Sondern ein Statement.
Aber während in Israel die Teilnahme das ist, was von einem erwartet wird, ist es in Köln eine ziemlich persönliche und vermutlich nicht einfache Entscheidung. Es ist ein aktiver Beitrag: Stillstehen ist eine Handlung.

Es ist ein Akt des Unterbrechens, der nicht staatlich verordnet ist. Aber zugleich ist es wichtig, dass er mit dem israelischen Ritual in Verbindung steht. Der Holocaust gehört nicht einer Seite – er ist gemeinsame Geschichte. Wir müssen an ihn gemeinsam gedenken, um tatsächlich mit der Gegenwart und der Zukunft umgehen zu können. Unsere Aufgabe ist es, an künftige Generationen zu denken. Wie können wir das tun? Diese Aktion ist ein Angebot, darüber aktiv nachzudenken.

Wie sind die bisherigen Erfahrung mit der Vorbereitung von „Zwei Minuten Stillstand” in Köln?

Von Anfang an haben wir nach Partnern gesucht. Wir hatten Gespräche mit zahlreichen Organisationen, die sich mit den gleichen Themen rund um Geschichte und Erinnerung beschäftigen. Aber die meisten von ihnen sind sehr zurückhaltend, an dem Projekt teilzunehmen. Es scheint, dass jeder seine Art des Gedenkens und des Umgangs mit der Geschichte behalten möchte. Aber wir sind froh, dass sich mehr und mehr Menschen engagieren.

Und welche Erwartung gibt es an diese zwei Minuten in Köln? Was ist das Ziel?

Das muss schon jeder für sich selbst herausfinden, was es für ihn bedeutet. Jeder muss seine eigene Erfahrung machen. Ich kann den Leuten ja nicht sagen, was sie zu denken oder fühlen haben. Ich schaffe eine Situation. Vielleicht wird es für einige nichts bedeuten und für andere wird es viel bedeuten. Die Verantwortung dafür liegt in der Hand jedes einzelnen.

Gespräch: Florian Malzacher

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