Impulse Theater Festival

Köln, Düsseldorf, Mülheim an der Ruhr

4.–14. Juni 2020

LOB DES VERGESSENS, Teil 2

Ein Nachfahre von Vertriebenen will verstehen, warum er über seine Familiengeschichte kaum etwas weiß. Eine persönliche Recherche, die anhand eines historischen Tondokuments Strategien und Techniken des Vergessens zutage bringt.

05.06.20 20:00 – 20:45

IN DEUTSCHER SPRACHE + Publikumsgespräch im Chat

Tagesprogramm
07.06.20 18:00 – 18:45

IN ENGLISH + Audience discussion via chat

Tagesprogramm

Anmeldung bis 1 Stunde vor Veranstaltungsbeginn hier (begrenzte Kapazitäten)
Alle Informationen und den Link zur Teilnahme erhalten Sie per Email. Sollten Sie den Link bis 12 Stunden vor der Veranstaltung nicht erhalten haben, überprüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner. Bei technischen Problemen bei der Anmeldung wenden Sie sich bitte an anmeldung[a]impulsefestival.de. Vor und während der Veranstaltungen steht hier im Live-Chat ein Support zur Verfügung.

© Oliver Zahn
Oliver Zahn_Lob des Vergessens © Oliver Zahn

Vor einigen Jahren stolperte Oliver Zahn im ethnografischen Tonarchiv zur Vertreibung Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg über ein Lied, das ihn seitdem nicht mehr loslässt. Darin besingt ein Vertriebener seine Erfahrungen mit Vertreibung, Flucht und Ankunft in der neuen Heimat. Oliver Zahn ist Enkel und Urenkel von Vertriebenen, er hat zu dieser familiären Vergangenheit bislang aber wenig Bezug. Sein Gedächtnis ist an dieser Stelle nahezu leer, der lebendige Erfolg kollektiver Vergessensstrategien.

In dieser Online-Performance sitzt er für das Publikum unsichtbar zu Hause an seinem Laptop und lädt dazu ein, mit ihm gemeinsam den Versuch zu machen zu verstehen, wie die Leerstelle in seinem Gedächtnis entstanden ist. Es wird deutlich, dass Vergessen nicht einfach geschieht, sondern dass ihm eine Entscheidung vorangeht. Ist das Chance oder Gefahr?

LOB DES VERGESSENS, TEIL 2 ist eine für sich stehende Fortsetzung von LOB DES VERGESSENS, das als Bühnen-Performance zum Impulse-SHOWCASE eingeladen war.

Antworten aus den Q&A vom 5. Juni

Folgende Fragen wurden im Live-Q&A aus Zeitmangel nicht beantwortet:

Q Gibt es nach dem Erarbeiten beider Teile von LOB DES VERGESSENS überhaupt noch eine Lücke zwischen dir und dem Lied?

A Ja, absolut, weil mir durch die Stücke erst klar geworden ist, wie groß diese Lücke eigentlich überhaupt war und wieviel mich und meine Erfahrung von dem trennt, was im Lied beschrieben ist.

Q Gibt es noch mehr Lieder, die in dieser Art planmäßig Erinnerungen einbrennen? Nicht nur aus dieser Zeit? Ist dieses Lied eins der wenigen oder nur ein Beispiel von vielen?

A Ja, ich würde sagen, dass dieses Einbrennen von Erinnerung sogar sehr typisch ist für diese Art von Volksliedern in allen Teilen der Welt.

Q Wieso ist diese Thematik nicht Teil der Öffentlichkeit? Besitzt sie noch Relevanz?

A Ich glaube, dafür gibt es viele Gründe, die aufzuführen den Rahmen dieses Q&A sprengen würden. Vielleicht ist das ein guter Moment, um auf LOB DES VERGESSENS, Teil 1 hinzuweisen, in dem diese Frage ausführlicher verhandelt wird. :)

Q Haben Sie mit Ihren Eltern und Großeltern bzw. anderen Zeitzeugen über das Lied gesprochen? War es diesen noch präsent? Ist das „Vergessen“ unbewußt geschehen oder angestrebt worden, um alte „Wunden“ zu verarbeiten?

A Tatsächlich habe ich mich am Anfang des Projektes dafür entschieden, mich auf das Archiv als materielles Gedächtnis meiner Großeltern-Generation (jenseits meiner tatsächlichen Familienmitglieder) zu beziehen — als Speicher von Wissen, das mir „fehlt“.

Q Was macht die Praktiken des sozialen Vergessens lobenswert? Was macht sie im konkreten Fall des Liedes lobenswert? Gibt es dort auch Elemente, die nicht lobenswert sind und darauf hinweisen, dass es sich um eine problematische Form des Erinnerns handelt?

A Absolut, ich finde nicht, dass vergessen per se besser ist als erinnern. Mir war es vor allem wichtig — auch im Kontext meiner bisherigen Arbeiten, die sich viel mit dem Wieder-Erinnern tabuisierter oder wenig bekannter Geschichten auseinandersetzen —, eine Lanze für das Vergessen als wichtiges Element im Kontinuum von Geschichts- und Erinnerungspolitik zu brechen.

Q Angenommen, Dir wäre das Lied weitergegeben worden, es wäre ein bewusster Teil deiner Vergangenheit. Inwiefern wären Dinge in Dir oder in Deinem Leben anders? Schließlich lobst du diese Gedächnislücke ... Siehst Du also Vorteile darin, das Lied nicht zu kennen?

A Hm, wie mein Leben in dem Fall ausgesehen hätte, lässt sich natürlich nur schwer sagen. Ich denke aber, dass in einem Szenario, in dem ich das Lied gelernt hätte, Deutschland insgesamt zumindest sehr anders aussehen würde als es tut, weil ich dafür argumentieren würde, dass die Nicht-Weitergabe des Liedes ja keine private Entscheidung meiner Familie war sondern Ausdruck einer größeren gesellschaftlichen Entwicklung.

Q Nicht jede Person hat den gleichen Einfluss auf Inhalte, die im Netz präsent sind. Wie beeinflusst deiner Meinung nach der digital bias unser globales, digitales Vorstellungs- und Erinnerungsvermögen?

A Hier finde ich vor allem die „nicht-digitalen“ Elemente spannend, also die Frage, wer technisch Zugriff auf das Netz hat und wer Zugriff auf die nötigen Fähigkeiten hat, um wirkmächtig auf die Inhalte im Netz zuzugreifen. Da bilden sich im Netz als zentralem Erinnerungsmedium des 21. Jahrhunderts natürlich die Offline-Machtverältnisse ab; gleichzeitig würde ich sagen, dass das Netz aber auch trotz seiner fortschreitenden Monopolisierung die Möglichkeit zur Vernetzung jenseits des Mainstreams bietet — auch hier eine komplexe Sachlage. To be continued, würde ich sagen. :)

Credits

Von und mit: Oliver Zahn
Dramaturgie: Felizitas Stilleke

Produktion

Eine Produktion von Oliver Zahn. In Kooperation mit GIFT Gateshead. Gefördert im Take-Care-Programm des Fonds Darstellende Künste.

Biografien

Felizitas Stilleke ist freie Dramaturgin und Kuratorin. Sie leitet Konferenzen wie zuletzt den Branchentreff 2019, übernimmt Festivaldramaturgien (Berliner Theatertreffen 2018, Impulse Theater Festival 2017 unter Florian Malzacher, FAVORITEN 2014 mit Johanna-Yasirra Kluhs) und ist als Produktionsdramaturgin in NRW und Berlin unterwegs. Stilleke war 2018 und 2019 für die Nachwuchsplattform „Introducing …“ beim Performing Arts Festival Berlin verantwortlich und ist Kuratoriumsmitglied beim Fonds Darstellende Künste und bei der Kunststiftung NRW. Sie studierte Germanistik/Erziehungswissenschaften in Bochum, Kulturpoetik in Münster sowie 2018/19 bei DAS theatre in Amsterdam „Expanded Curation“.

Oliver Zahns choreoografisch-diskursive Performance-Essays kreisen oftmals um die Pole Geschichte, Nationalismus, Körper — ethnografisch, archivbasiert und im Selbstversuch. Neben „Situation mit ausgestrecktem Arm“ über die Kulturgeschichte der „Hitlergruß“-Geste und „Situation mit Doppelgänger“ über kulturelle Aneignung im Tanz, Imitation und Minstrel Shows (mit Julian Warner) entstanden „Zweiter Versuch über das Turnen“ über deutsche Identität und Zugehörigkeit zum „Volkskörper“ anhand von Geschichte und Praxis der deutschen Turnbewegung (gemeinsam mit sieben Kollaborateur*innen) sowie zuletzt „Teutona“ und „Futur Germania“.