She She Pop und die Kammerspiele München - Ein Beziehungsgespräch

6 Juli 2016

Anna Drexler und Walter Hess (SchauspielerInnen & Ensemblemitglieder der Münchener Kammerspiele), Tarun Kade (Dramaturg Kammerspiele), Ilia Papatheodorou und Sebastian Bark (PerformerInnen bei She She Pop) über ihre Zusammenarbeit in „50 Grades of Shame“ an den Münchener Kammerspielen, über die Unterschiede zwischen Performern und Schauspielern und unterschiedliche Arbeitsweisen und Strukturen an Stadttheatern und im freien Theater.


„Nur völlige Klarheit der gegenseitigen Beziehungen kann den Erfolg eines Ab-
kommens zur Erreichung des nächsten gemeinsamen Zieles gewährleisten.”
Wladimir Iljitsch Lenin


Über Erwartungen

Ilia Papatheodorou: Walter und Anna, was habt Ihr gedacht, als Ihr gehört habt, dass Ihr mit uns arbeiten sollt?

Walter Hess: Ich hab mir da keine großen Gedanken gemacht. Mich hat eure Arbeit interessiert. Ich hab „Testament” gesehen, und hab bei der ersten Begegnung gefragt, was auf uns zukommt. Da wurde dann vor allem über Technisches gesprochen. Dann hab ich nachgefragt: Ja, aber der Inhalt? Das war so vage mit Wedekind „Frühlings Erwachen” und so – und weiter wussten wir nichts.

Anna Drexler: Mich hat interessiert, viel mehr und zu viel offeneren Themen zu improvisieren – ohne Textgrundlage. Das fand ich eine gute Herausforderung, weil ich das noch nie gemacht hatte. Auch dass man sich in den Vorstellungen in eine Situation begibt, bei der man nicht immer genau weiß, wie der Abend heute wird. Deswegen ist es für mich wichtig, dass man sich jedes Mal wieder neu darauf einlässt, jede Vorstellung also relativ blank zu beginnen.

Über die Grenzen der Selbst-Darstellung vs. die Freiheit der Rolle

Hess: Ich sah natürlich damals schon, dass das ein Unterschied sein wird zu dem, was wir sonst machen. Sonst arbeiten wir mit Rollen. Wir haben ein Rollenverständnis, steigen in diese Rollen ein und entfalten sie. Hier ist keine Rolle. Jeder Satz, den ich spreche, sagt etwas über mich aus. Ich bin als Walter Hess auf der Bühne. Das ist der wesentliche Unterschied.

Drexler: Was mich auch interessiert hat: Dass man als „man selbst“ in den Proben beteiligt ist. Dass ich als „Anna“ in Anführungsstrichen auf der Bühne stehe: Was bedeutet das für mich? Und wie kann man damit umgehen? Denn eigentlich interessiert mich das nicht.

Papatheodorou: Das hast du auf einer Probe auch mal gesagt – das war ein Moment, in dem wir alle die Ohren gespitzt haben, denn eigentlich gibt es solche kritischen Einwände auf Proben ja selten. Wie ist das für dich, so persönlich zu werden?

Drexler: Die Erfahrung ist lustiger Weise, dass es dennoch eine Figur ist, eine Bühnenfigur, auch wenn die sogar meinen Namen hat. Zum Beispiel würde ich persönlich nie öffentlich so explizite Worte sagen wie Klitoris oder Eichel.

Hess: Auch, wenn es in einem Stück vorkommt?

Drexler: Wenn es in einem Text vorkommt, klar. Aber ich würde von mir aus nicht sagen: „Ich lecke an seiner Eichel.“ So etwas kann ich in diesem Abend nicht sagen, weil ich da mit meinem Namen stehe. Das würde kollidieren. Deswegen ist das eine modellierte Form, in der ich auftrete. Ich würde in diesem Stück nie gewisse Grenzen überschreiten. Es war interessant, das zu entdecken.

Hess: Ja, darum ging es ja während der ganzen Probenarbeit: Wie weit öffne ich mich persönlich und wie weit verschließe ich mich? Das lief die ganze Zeit durch. Und vor allem bei den Improvisationsstellen ist es auch geblieben.

Drexler: Der Gegensatz zu sonstigen Proben ist: Man kann sich ja nur persönlich einbringen. Man kann ja nur sich selbst als Material begreifen, mit dem man arbeiten kann. Das führt aber dazu, dass ich sagen würde, dass ich in den meisten Stücken, in denen ich eine Figur spiele, insgeheim sehr viel mehr von mir preisgebe und auch geben kann als in „50 Grades“.

Hess: Bei mir ist es ähnlich. Ich öffne mich viel mehr innerhalb von Rollen. Ich kann da schamloser, hemmungsloser sein. Und deshalb bleibt es bei „50 Grades Of Shame“ in erster Linie ein Diskurs. Wir breiten nicht unsere Gefühle aus.

Sebastian Bark: Ja, man könnte sich bei diesem Thema auch viel krassere Sachen vorstellen.

Drexler: Man könnte ja wirklich was von sich erzählen! (Lachen)

Hess: Ja, aber das wird doch zum Teil gemacht. Du, Sebastian, bist sehr offen, was deine Geschichte betrifft.

Bark: Da liegt glaube ich ein wichtiger Unterschied: Es geht nicht um eine Aussage, die möglichst persönlich oder möglichst krass ist. Auf dieser Bühne werden in anderen Stücken so viel krassere Sachen gesagt und explizit dargestellt. Es werden Grenzen überschritten – aber wessen Grenzen sind das eigentlich? Bei uns geht es um die Grenze, an die man selbst stößt, ganz konkret. Z.B. als Sebastian Bark nicht Eichel sagen zu wollen, hier, vor diesem Publikum. Das ist ja was ganz Kleines, und genau der Punkt interessiert mich. Wie man diese Grenze sichtbar machen könnte. Zu welchem Zweck man sie überschreiten würde. Und welchen Preis man dafür zahlt. Aus meiner Sicht steht ihr als Schauspieler in anderen Inszenierungen unter einem Schutz, wenn ihr einen Textvon einem anderen Autor sprecht und inszeniert worden seid von anderen Leuten.

Hess: Inszeniert werden hör ich ungern.

Drexler: Ich auch!

Bark: Wie auch immer dieser Schutz zu Stande kommt – dadurch, dass es eine Rolle ist, dadurch, dass es ein fremder Text ist, dadurch, dass man dem Zusammenhang der Inszenierung vertraut, man kann sich anders fallen lassen in eine Fantasie oder in eine Illusion und setzt sich leichter über gewisse Grenzen hinweg. Mich erinnert das an eine Situation mit meinem Psychotherapeuten. Ich war damals unzufrieden mit der Therapie und meinte: Warum können wir nicht eine anständige Analyse machen? Lassen Sie mich doch bitte hier auf die Couch legen, damit wir uns nicht so angucken müssen, dann könnte ich richtig loslegen, denn ich hab wirklich das Bedürfnis auszupacken. (Lachen) Und dann meinte der: Wissen Sie was? Wenn ich Sie so sehe, lassen Sie uns das nicht machen. Sie setzen sich mal hier mir gegenüber, wir schauen uns an, und dann gucken wir, was Sie dann noch zu sagen haben. Dann gucken wir mal, worum es hier gehen könnte zwischen uns. Lassen Sie uns eine reale Situation herstellen, in der Sie sehen, dass ich Ihnen zuhöre. Daran muss ich gerade denken. Wenn du als Anna oder ich als Sebastian auf der Bühne sind und wir haben dem Publikum gesagt, wir wollen euch was sagen, und dann reden wir über Eichel und Vorhaut und Klitoris, dann ist es was ganz, ganz anderes. Dann ist dieser Schutz nicht da, und ich muss mir genau überlegen, vor welcher Art von Öffentlichkeit ich welche Worte in den Mund nehme und warum.

Papatheodorou: Die Anerkennung der Öffentlichkeit, das ist ein wichtiger Punkt. Die Anerkennung der sozialen Situation im Theater. Und die bringt gewisse Grenzen mit sich.

Bark: Genau. Und die zu überschreiten, das kostet was …

Papatheodorou: … weil du ein soziales Wesen bist. Ich versteh schon, dass dieser Rahmen das verhindert. Besonders in diesem sehr prominenten Theaterbau der Münchner Kammerspiele, der seine eigene Rezeptionsgeschichte hat. Wenn „50 Grades Of Shame“ in irgendeiner Blackbox gezeigt würde, dann wäre automatisch viel stärker betont, dass wir den Raum teilen mit den Leuten, die sich das anschauen und deren Anwesenheit wir anerkennen.

Bark: Diese Fragen „Was ist meine Grenze, wenn ich als Anna auf der Bühne stehe? Was will ich da sagen?“ geraten aus dem Fokus, wenn sich die soziale Situation, die Öffentlichkeit, in der Dunkelheit verschwindet. Je sichtbarer die ist, desto mehr sieht man auch den Preis, den es dich kostet, an diese Grenze zu gehen und sie zu überschreiten, oder nicht zu überschreiten.

Drexler: Den Preis zahle ich an ganz anderen Stellen. Bei dem, was ich sage, da bezahle ich keinen Preis. Dazu begreife ich es doch zu sehr als Spiel. Ich spiele da eine Figur und Spielen passiert mir nicht, sondern das ist was, was ich ganz bewusst tue. Mit einem ganz klaren Blick.

Papatheodorou: Du gestaltest.

Drexler: Ich gestalte etwas, exakt. Den Preis bezahle ich, wenn ich z.B. oben ohne im Videobild erscheine – da merke ich: Das kostet mich eine Menge. Ich weiß, man sieht auch nur manchmal die Hälfte, aber da komme ich an eine Grenze. Das ist mein Einsatz, und da spare ich mich nicht.
Eigentlich arbeite ich sehr gern alleine und ich bau mir etwas, das nur ich mir so vorstelle. Bei dieser Arbeit hatte ich das Gefühl, ich kann nie einen Raum für mich aufmachen, weil die Proben immer von einem auf den nächsten Tag geplant waren. Deshalb war immer angewiesen auf Ansagen von „wir machen heute mal das”. Deswegen hatte ich immer das Gefühl, es geht nicht los. Das ist interessant: Obwohl man vermeintlich ja so frei sein könnte, habe ich mich an einer ziemlich kurzen Leine gefühlt …

Hess: … weil alles rein auf verbaler Ebene passiert. Weil man sich nicht auf Figuren einlässt oder sich gehen lässt, sondern es ist immer kontrolliert: Es ist immer nur das, was ich sage.

Bark: Bei She She Pop geht es immer um Momente von – ich kann es nicht anders nennen – Realität. Ich finde das aber ein ganz doofes Wort dafür. Also etwas Autobiografisches, das man auf die Bühne stellt und das dort stark gerahmt wird und irgendwie ganz fremd aussieht, wie ein ethnologisches oder zoologisches Objekt, obwohl es was ganz Nahes ist.

Hess: Das ist der Reiz eurer Art, auf dem Theater zu agieren, genau dieses Persönliche, was wir nicht so mitbringen.

Bark: Es geht darum, diesen Widerspruch aufzubauen: Da ist dieses ganz Echte, das irgendwie kostbar ist oder fragil oder heilig oder schwierig. Zu dem man ein undistanziertes Verhältnis hat, zum Beispiel eben der eigene Körper, die eigene Sexualität. Und dann werden Methoden, Sprachspiele und komplexe technische Aufbauten entwickelt, die uns helfen, möglichst fremd da drauf zu gucken, um irgendwas Neues drin zu sehen. Mit so einem Verfremdungsapparat wollten wir zu Probenbeginn an den Kammerspielen ankommen. Aber irgendwie war es nicht sofort möglich, das zu realisieren. Dieses Private da einfach hinzulegen …

Papatheodorou: Der Rahmen war da. Und den zu füllen, das war das Angebot. Aber diese Methode zu lehren, wie das gefüllt werden kann, dafür war keine Zeit.

Tarun Kade: Aber es gab ja auch den anderen Aspekt, mit dem wir uns bei den Proben vielauseinandergesetzt haben: die Körper in den Videomontagen. Und ich glaube, dass man da schon an den Punkt kommt, wo die Dinge etwas kosten, wo man sich überwinden muss, wo man mit seiner Biografie und seinem realen Körper umgeht. Das ist der Bereich, wo alle bestimmte Grenzen überschritten haben und anders auf der Bühne stehen als sie es sich am Anfang hätten vorstellen können. In diesen Videomontagen entstehen Kombinationen, die auch an die Schamgrenze gehen. Auf dieser Ebene löst sich das sehr gut ein.

Drexler: Es ist ja auch eine bewusste Entscheidung, wo man an seine Grenzen gehen will. Ich finde z.B. deinen Text an der Kanzel, Sebastian, über das Po-Loch irre mutig. Für mich ist das der mutigste Moment des Abends. Davor hab ich schon großen Respekt. Es ist tatsächlich so, dass ich mir unter keinen Umständen vorstellen kann, so was zu machen.

Bark: Du kannst es nicht machen, oder du willst es nicht machen?

Drexler: Will.

Bark: Ja. Genau. Ich mach das ja auch nur, weil ich die Hoffnung habe, dass das …

Papatheodorou: … transzendiert…

Bark: … eine politische Aussage sein könnte. Weil ich da auf einer Scheiß-Kanzel stehe und das macht mir wahnsinnig Druck, dazu ist die Kanzel ja auch da: Das, was hier gesagt wird, das spielt echt eine Rolle. Das war die Aufgabe: Welches Thema ist es wert, von der Kanzel herunter besprochen zu werden. Und dann dachte ich, okay, „Lobgesang auf das Po-Loch”. Das heißt, es geht gar nicht darum, eine Grenze zu überschreiten. Deswegen ist dieses Wort Scham auch so schwierig, weil es suggeriert, dass sie ein Wert an sich wäre.
Unter vielen Bedingungen ist es aber gut, über eine Grenze zu gehen und auch schamlos zu sein. Deswegen will ich auf dich erwidern: Wenn du ein wirkliches, künstlerisches Anliegen hast, wenn du sagst, das möchte ich gerne zeigen, ich hab da eine Vision, dann könntest du dir doch auch vorstellen, dass du über diese Grenze gehst. Weil du weißt: Das will ich jetzt einsetzen.

Drexler: Ja. Aber eben nicht mit der Ansage davor: Das ist Anna Drexler und das ist Sebastian Bark. So nicht.

Papatheodorou: Diese Art von persönlicher Investition, die geht immer nur unter ganz starken gestalterischen Aspekten. Es geht ja nicht um Biografie als Zweck, sondern wenn, dann benutze ich meine Biografie gestalterisch.

Drexler: Ja, ja, das verstehe ich … Und dennoch ist das etwas, das ich nicht aufbringen könnte. Aber du hast davor über das Fremde gesprochen: Dass ihr etwas, was ganz nah an euch dran ist, als etwas Fremdes betrachtet. Das erreicht mich total, weil mich beim Spielen auch immer sehr interessiert, das Fremde anzuschauen und das Fremde wiederzuerkennen.

Bark: Das Fremde nahe zu rücken.

Drexler: Ja. Wenn ich etwas spiele, dann suche ich nach dem Fremden. Nach dem, was man verwandeln kann … Man versucht, das Bekannte in etwas Fremdes zu verwandeln, um neu betrachten zu können. Das ist doch sehr ähnlich eigentlich. Und auch diese Ernsthaftigkeit kenne ich. So ernsthaft, wie du auf der Kanzel sprichst, Sebastian, so ernst ist bei mir auch alles beim Spielen.

Paptheodorou: Für uns war ja die Begegnung von Performern und Schauspielern in Bezug auf das Thema Sex auch konzeptuell wichtig. Denn gerade bei Sexualität ist ja die Aneignung des Fremden, des Fantastischen, des Spiels und der Rolle eine ganz große Möglichkeit. Und nicht das Natürliche, das Wesenhafte, das biografisch Nachvollziehbare. Der sadomasochistische Vertrag handelt davon, das Spektrum dessen zu erweitern, um neue Szenarien, neue Handlungsmöglichkeiten, Rollenspiele und so weiter. Und deswegen war unser Text vom Performer, der von sich sagt „Ich bin ich!“ sehr selbstironisch. Weil diese Haltung aus unserer Sicht für dieses Thema gar nicht produktiv ist. Sondern eher ein spielerischer Zugang: „Nein, ich bin nicht ich! Ich kann mir was ganz anderes vorstellen, ich kann etwas spielen, ohne es zu sein!“ Deswegen ist auch diese Szene in der du, Anna, Christian Grey spielst, so beispielhaft. Du sagst: Ich erreiche das durch Spiel, dieser Mann zu sein. Wir transzendieren die Biologie und das Wesenhafte, indem wir diesen Aspekt des Spiels einführen. Und das hat was Politisches in Bezug auf das Thema Sexualität.

Kade: Ich finde gut, dass du das mit dem Rollenspiel nochmal erwähnst. Denn darüber habe ich damals viel nachgedacht. Jetzt glaube ich, dass es eigentlich …

Papatheodorou: … nicht richtig rauskommt.

Kade: Ja, und zwar aus einem Grund, der gar nicht wenig mit dem zu tun hat, was du vorhin über die kurze Leine gesagt hast. Das Rollenspiel funktioniert ja auch darüber, dass man Raum gibt, der erlaubt, in eine Rolle hineinzuschlüpfen. Die Struktur des Abends besteht aber eher aus Schnipseln, es gibt also keine Entwicklung. Das fände ich perspektivisch interessant an der Konstellation mit euch und Schauspielern. Weniger, das theoretisch zu thematisieren, als zu gucken, was man aus den Möglichkeiten des Rollenspiels herausziehen kann. Wo man damit noch hinkommen kann, wo Ihr sonst nicht hingehen würdet.

Hess: Ihr habt von der Szene geredet, in der Anna als Christian Grey spricht. Für mich ist das keine Szene, das ist ein Dialog über eine Figur. Ich denke, dass man mehr unsere Fähigkeiten als Schauspieler nutzen könnte, um manche Szenen mal wirklich zu spielen.

Bark: Also, vielleicht ist das der Zeitpunkt, Walter, wo wir auch noch mal ehrlich sein müssen: Auf einer Bühne miteinander zu sprechen oder zu spielen, ist für uns eigentlich unmöglich. (Lachen). Uns interessiert eigentlich immer nur die Richtung zum Publikum. Selbst wenn ich mit Anna spiele, nehme ich doch immer wieder Kontakt mit dem Publikum auf …

Papatheodorou: Er schielt immer so unsicher rüber: „Guckt mal, was sie mit mir macht!“ Das ist ziemlich lustig.

Bark: … und mache damit deutlich, dass wir was vorführen.

Hess: Jaja, klar.

Bark: Mehr ist erst mal nicht möglich. Vielleicht ist das ja aber auch ängstlich und wir könnten tatsächlich mal was anderes probieren.

Hess: Ja, das wäre der Vorschlag.

Bark: Unsere Sorge ist nicht, wie du, Walter, ja auch in deinem Text sagst, dass die eigene Figur zusammenstürzt, sondern unsere Sorge ist, dass unsere Öffentlichkeit, die wir mit dem Zuschauer herstellen, zusammenstürzt, sobald wir in Richtung Zuschauer dicht machen. Und ich glaube, dass das – leider! – in dem Stück die ganze Zeit passiert. Und dass wir uns viel zu wenig um diese Öffentlichkeit kümmern, um die Situation, um – wie mein Therapeut sagen würde – die soziale Situation zwischen mir und ihm. Und dass wir viel zu sehr auf der Couch liegen und fantasieren und die Leute sich ihren Teil dabei denken.

Kade: Es ist schon interessant, dass Ihr beispielsweise in „Testament” ganz klar eure Väter als Readymades in ihrer Funktion als Väter verwendet. Aber hier verwendet ihr die Schauspieler nicht als Readymade-Schauspieler. Das hätte man ja auch machen können.

Bark: Ja.

Kade: Es gab ja auch kurz die Überlegung, ob die Schauspieler zwischendrin Wedekind-Szenen spielen – das wäre dann quasi das Readymade. Man wäre vielleicht fasziniert, wie sie das spielen können, aber man würde das trennen. Man hätte dann überhaupt She She Pop und Schauspieler deutlicher voneinander getrennt. Jetzt sind ja in der Bühnensituation …

Hess: … alle gleich.

Kade: Es gibt unterschiedliche Qualitäten, aber in der Anlage sind die Funktionen nicht unterschieden, ob jemand aus dem Ensemble der Kammerspiele kommt …

Hess: … oder wie die Lili aus einer Schultheatergruppe kommt. Sie macht genau das gleiche, was wir auch machen müssen.

Drexler: Dass ihr spielt und wir performen, das wird nicht passieren. Das liegt ja auch an unterschiedlichen Entscheidungen und Interessen. Da können wir zwar aufeinandertreffen, aber verschmelzen nicht.

Über das schöne große Haus

Papatheodorou: Also der Raum macht mich wirklich fertig. Das muss ich echt sagen. Weil ich immer denke: Dieses Stück würde so viel besser in einer Blackbox wirken. Schon allein das Proszenium stört mich. Für mich werden das dadurch Bilder in einem Bilderrahmen, die wir da geschaffen haben. Dieser klassische Theaterbau, der macht uns tatsächlich zu schaffen. Wie kann man es hinkriegen, dass wir in so einem konventionellen Theater-Raum, der eigentlich von Öffentlichkeit handeln soll, genau dieses Moment des Hier und Jetzt hinkriegen? Es liegt auch an der Architektur, dass wir das verlieren.

Hess: Ja.

Kade: Das hat aber auch damit zu tun, dass bei „50 Grades“ der Ansatz einer ist, bei dem es um das Komponieren von Bildern geht. Ein Großteil der Proben am Anfang ging darum, wie man diese zusammengesetzten Bilder von Körpern auf den Leinwänden komponiert.

Hess: Matthias Lilienthal wollte halt ein Zeichen setzen, dass man das wichtig nimmt, und dass das deshalb auf der Hauptbühne stattfindet.

Bark: Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns darauf nochmal einlassen würde. Denn was nützt es uns, wenn der Raum für das, was wir machen wollen, nicht geeignet ist. Das nützt vielleicht dem experimentellen Flair von dieser Spielzeit, aber nicht unbedingt unserem Stück.

Darüber, dass die Institution dich ändert, bevor du sie änderst.

Papatheodorou: Eine Sache, die ich als Fehler bezeichnen würde, ist, dass wir schon früh zu Matthias Lilienthal gesagt haben: Wir brauchen auf jeden Fall mehr als acht Wochen Probenzeit. Wir brauchen mindestens 12 oder 14 Wochen, wenn wir eine Produktion machen, weil wir Sachen entwickeln müssen. Und diese Entwicklung, die muss natürlich in München stattfinden. Und er hat gesagt: Das lässt sich nicht machen, vergesst es. Und dann haben wir diese Vorarbeiten allein in Berlin gemacht, ohne euch, die Ensemblemitglieder.

Hess: Das ist auch für mich eine zentrale Frage: Wann wird man eingebunden? Wenn man es freundlich sagen will: Wir vier Schauspieler sind jetzt eingeladen gewesen, mit einem Kollektiv aus Berlin, das wohl vorbereitet ankam, zusammenzuarbeiten. Aber wir haben nicht gemeinsam angefangen oder vielleicht sogar mal Rollen von euch übernommen, mal eine Probe geleitet oder so. Das braucht natürlich lange Vorbereitung. Da stellt sich die Frage, wie freie Gruppen mit unserer Struktur unter einen Hut zu bringen sind.

Kade: Das hat ja ganz pragmatisch-strukturelle Gründe. Zum Beispiel, dass Ihr abends andere Vorstellungen spielt oder dass ihr vorher in anderen Proben wart. Selbst während der Proben hier hat She She Pop ja abends weitergearbeitet, während ihr anderswo eingebunden wart. Das hat mit dem ganz konkreten Repertoire-System zu tun.

Hess: Und da liegt eine Kernfrage.

Kade: Aber in diesem ersten Jahr in den Kammerspielen ist soviel neues passiert, da wurde soviel zusammengeworfen – auch wenn da nicht jedes Mal das maximale Potential ausgeschöpft wurde, ist doch ein Anfang gesetzt, auf dem man aufbauen kann.

Hess: Ja. Und deswegen ist es wichtig, ein Gespräch zu führen, wie das weitergehen kann. Dass nicht nur die Dramaturgie und Intendanz das für sich beurteilen, sondern dass wir gemeinsam darüber reden, wo freie Gruppen und unsere Strukturen vielleicht nicht kompatibel sind. Und wie man damit umgeht. Was mich interessieren würde: Wie war es denn für euch, als Regie-Kollektiv, mit uns vieren zusammenzuarbeiten? Das jeden Morgen kommt und uns Aufgaben stellt …

Papatheodorou: Das ist ein Horror für mich, dass du das sagst: Regie-Kollektiv.

Hess: … Ich bin noch nicht zu Ende: … und das sich selbst denselben Aufgaben stellt. Das ist der wesentliche Nachsatz!

Papatheodorou: Also: Ich fand es mit euch sehr schön und tatsächlich auch sehr leicht. Ich hab auch die Grenzen der Arbeit früh realisiert und mich von bestimmten Sachen innerlich verabschiedet. Und ich hab gesehen, dass es euch genauso geht. Wir haben einen hochkomplexen technischen Aufbau gehabt, den wir grade so hinbekommen haben, und der für uns ein richtiges Risiko birgt, weil so viel schiefgehen kann. Und da haben wir – und auch ihr – gemerkt, dass sich die Frage stellt: Wie belastbar ist diese Situation für eine richtige Auseinandersetzung?

Bark: Wir sind, glaub ich, anderthalb Monate lang gewissen schwierigen Themen ausgewichen. Oder nicht ausgewichen, wir haben Möglichkeiten gesucht, zusammenzuarbeiten. Aber über die Frage nach prinzipiellen Unterschieden zwischen uns – Gibt es die? Oder worin liegen die? – haben wir kaum gesprochen. Wenn du jetzt zum Beispiel sagst, „ich hab mich an der kurzen Leine gefühlt“, dann ist das eine Konsequenz dieses nicht stattgefundenen Gesprächs.

Drexler: Die Arbeit hat mich oft in einer guten Weise provoziert. Ich musste viel nachdenken, weil man ständig konfrontiert mit unterschiedlichen Herangehensweisen wurde. Oder dass ich das Gefühl hatte, der Begriff „Schauspieler“ hat vielleicht für euch etwas Altertümliches, von dem ihr euch befreien wolltet … Und deshalb musste ich über den Begriff plötzlich viel nachdenken und über den Unterschied unserer Arbeitsweisen.

Papatheodorou: Uns allen sind Grenzen aufgefallen, die wir haben. Täglich auf der Probe, aber auch darüber hinaus. Ich glaube, wir haben bestimmte Konflikte zurückgehalten, kleingemacht. Als Anna auf der Probe gesagt hat: „Das interessiert mich eigentlich überhaupt nicht, als Anna auf die Bühne zu gehen und von mir zu sprechen“, dann hätte ich sie konfrontieren können in dem Moment. Hab ich nicht gemacht, weil ich gedacht habe, jetzt ist nicht der Moment. Und dann schreib ich mir das auf die Agenda, jeden Tag, und irgendwann fällt es hinten runter.
Eine Sache, die mir aufgefallen ist: Ich bin eigentlich eine recht selbstbewusste Performerin bei She She Pop, also ich trau mir Sachen zu. Und hier hab ich gemerkt, dass ich, wenn ich mit euch zusammenkomme, die Schwäche des Autodidakten empfinde. Ich hab gemerkt, dass mein Selbstbewusstsein in eurer Anwesenheit leidet. Und deshalb bin ich sehr freiwillig davon zurückgetreten, selbst auch in dieser Arbeit zu performen. Das wär mir sonst nicht so leicht gefallen. Aber das sind Dinge, die in unserem Stück nicht artikuliert werden.

Über Illusionen

Bark: Man ist doch irgendwie betroffen von den vielen Illusionen, die man sich über sich und seine Kunst macht. Die kann man nicht so leicht loswerden. Und für mich war die Begegnung mit euch und vor allem mit der Institution eine ganz schöne Herausforderung insofern, als dass ich mit meinen Illusionen über unsere Kunst konfrontiert war. Das ist vielleicht diese heimliche Vorstellung, dass dieses Projekt doch mehr ist als einfach nur das nächste Stück oder irgendeine Produktion hier.
Und dann komm ich an die Kammerspiele und bin natürlich mit der Realität konfrontiert, einsortiert zu sein in diese super getakteten Abläufe, und dann morgen das und übermorgen das. Wir waren super naiv. Und auf einmal sind das einfach nur noch peinliche Illusionen, die man sich gemacht hat.

Kade: Ja, ich versteh, was du meinst. Das ist natürlich schon spezifisch hier, und dann auch noch in so einem ersten Jahr, in dem wir denken, wir machen hier NUR besondere Produktionen. Wir laden nur Leute ein, die wirklich um was ringen, wirklich nach was suchen, die was wollen. Aber die Realität ist natürlich, dass man dann vier oder fünf Produktionen im Jahr hat, die alle diesen Unbedingtheitsanspruch haben.

Papatheodorou: Also, ich muss schon sagen, ich bin echt von uns auf eine Weise enttäuscht … also, nicht von UNS, aber … nein. Doch. Also, ich bin enttäuscht davon, dass wir … Ich glaube, wir können einen Prozess besser führen. Aber dafür brauchen wir viel mehr Zeit. Dann können wir den Prozess methodischer gestalten und teilbarer machen. Und dann hätte sich das für uns mehr eingelöst, dieses Gefühl, dass dieses Projekt eine Wichtigkeit in unser aller Alltag hat und in unserer künstlerischen Biografie.

Drexler: Also, das hat sich für mich aber auch total eingelöst. Für mich war das eine sehr neue Erfahrung. Um nochmal auf das zu kommen, was man einzahlt: Also, ich bin immer nervös auch vor der Vorstellung, weil es viele Texte oder Bereiche gibt, auf die man sich eben nicht vorbereiten kann. Und ich denk mir ja auch nicht vorher in der Garderobe was aus. Und man hat ja schon erlebt, wie das ist, wenn einem nichts einfällt – das ist eben nicht interessant. Und das ist doch schon ein Einsatz. Und auch während der Proben muss ich sagen, man spricht natürlich schon von sich. Ich würde sagen, ich habe von jedem einen guten Eindruck bekommen, was der für einen Sex hat. Ernsthaft. Und das ist doch auch was sehr Ungewöhnliches.

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