Decide or else

Entscheidungen in Gesellschaft, Politik und Kunst

Die Nachricht, dass Großbritannien die EU verlässt, platzte mitten ins Impulse Theater Festival 2016. Während der ersten inhaltlichen Überlegungen für die diesjährige Ausgabe wählten die USA Donald Trump zu ihrem Präsidenten. Bis das Festival beginnt, stehen weitere folgenschwere Entscheidungen an – und kurz darauf die Bundestagswahlen. Beim Schreiben dieses Vorworts lässt sich noch nicht absehen, wie die Gemütslage zur Eröffnung des Festivals sein wird: kurzatmiger Optimismus, dass es nicht ganz so schlimm gekommen ist, oder frustrierte Ursachenanalyse? Wie wir entscheiden, was für Entscheidungen wir überhaupt treffen dürfen, das sind längst Überlebensfragen.

Impulse begreift Theater als gesellschaftliches Labor. Seit 2013 haben wir über vier Festivals hinweg untersucht, wie politisches Theater heute aussehen und handeln kann, in welchem Verhältnis es zur Gesellschaft steht und inwieweit nicht nur künstlerische Ergebnisse, sondern auch Versuchsanordnungen, Arbeitsweisen und Organisationsformen selbst politische Experimente sein können.
Solche Überlegungen setzen wir in dieser Ausgabe fort: „Decide or Else“ (frei übersetzt: Entscheid oder stirb) – das ist eben nicht nur ein demokratisches Versprechen, sondern auch eine Drohung. Wie sollen wir heute entscheiden, welche Entscheidungen dürfen wir überhaupt treffen? Welche Findungs- und Verhandlungsprozesse herrschen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft? Und: Hat Kunst der Krise der Demokratien etwas Eigenes entgegenzusetzen?

Entscheiden ist eine politische und zugleich eine zutiefst persönliche Angelegenheit. Im lateinischen Wort decisio steckt der Schnitt, nach dem es kein Zurück gibt. Und so beginnt das Festival mit einem Verweis auf den wohl berühmtesten (Nicht-)Entscheider der Theatergeschichte: Für Boris Nikitins „Hamlet“ ist Sein oder Nicht-Sein, Zaudern oder Handeln, keine Frage der Entscheidung mehr, sondern eine Spannung, die man aushalten muss – und darin nicht unähnlich der künstlerischen Falle, die uns Monster Truck mit „Sorry“ stellt: In der kontroversen Arbeit, die gemeinsam mit dem nigerianischen Choreografen Segun Adefila und seiner jungen Tanzkompanie The Footprints entstand, werden wir zu widerwilligen KomplizInnen eines albtraumhaften postkolonialen Kulturaustauschs. Der Wunsch, sich zu verhalten, findet kein Ventil – eine Situation, die auf ganz andere Weise auch Milo Rau mit „Five Easy Pieces“ erzeugt, einem der meistdiskutierten europäischen Theaterstücke der letzten Saison. Hier spielen Kinder die Geschichte des belgischen pädophilen Mörders Marc Dutroux nach, und wieder wird die Verantwortung an uns als Publikum delegiert: Was sollen Kinder wissen, tun, aussprechen? Welche Rolle spielen wir als ZeugInnen? Noch mehr sind wir in Dries Verhoevens ebenso politischer wie poetischer Live-Installation auf uns selbst gestellt, wenn wir ganz allein der Protagonistin einer fremden Welt begegnen. „Guilty Landscapes“ verlangt uns das paradoxe Kunststück ab, uns gleichzeitig selbst zu hinterfragen und zu positionieren.

Im Vergleich scheinen da die Entscheidungen, die ins Zentrum von „Du gingst fort“ gerückt werden, auf den ersten Blick privat oder gar provinziell. Dass sie aber nicht minder politisch und universell sind, zeigt das steirische Frauenkollektiv Die Rabtaldirndln auf seiner Suche nach jenen, die weggezogen sind – vom Land in die Stadt, aus engem sozialen Zusammenhalt und Fürsorge in vergleichsweise große Anonymität, aber auch Freiheit.

Wer hilft und sorgt, wenn die familiären und nachbarschaftlichen Netze nicht mehr dicht genug sind, danach fragen auch die jungen Gießen-Absolventinnen von Swoosh Lieu und versammeln jene, deren unsichtbare Arbeit das (Über-)Leben erst möglich macht. Während die inszenierte Installation „Who cares?!“ einen feministischen Blick auf Sorge-Zusammenhänge wirft, fokussiert „Die Erfindung der Gertraud Stock“ der ebenfalls jungen Theatergruppe vorschlag:hammer ein einziges Leben: Anhand von Interviews, Fotos und persönlichen Aufzeichnungen – faktentreu und frei erfunden – führen sie durch die Biografie einer gewöhnlich ungewöhnlichen Frau am Ende ihres Lebens.

Ganz am anderen Ende der Altersskala stehen hingegen die drei- bis zehnjährigen ZuschauerInnen und ProtagonistInnen von „DA GEFAHR!“, einer Arbeit des Hamburger FUNDUS THEATER, bei der deutlich wird, wie sehr Entscheidungsräume von früh an durch Normen und Vorsichtsmaßnahmen bestimmt werden. Wenn das Theater der Raum ist, in dem man dann doch mal an einer 9-Volt-Batterie leckt, ist vielleicht noch Hoffnung – während anderswo längst einstige stolze Theatergebäude zur Tiefgarage umfunktioniert werden, wie die FilmemacherInnen Daniel Kötter und Constanze Fischbeck mit „state-theatre #4 – 6“ im Depot des Schauspiel Köln zeigen.

Optimistischer nutzen She She Pop und Gintersdorfer/Klaßen – altbekannte Festivalgäste – sowie die erstmals zu Impulse eingeladene Gruppe internil den Raum des Theaters, wenn sie sich am Ende des Festivals der etwas verstaubten Form des Monologs widmen und so den Bogen zum Eröffnungs-„Hamlet“ schlagen: Was hat der Einzelne in der Gesellschaft zu sagen? Und wo liegen die Grenzen zwischen Individuum und Kollektiv, PerformerIn und ZuschauerIn?

Gerahmt wird das Einladungsprogramm, das in alter Impulse-Tradition versucht, einen Einblick in die freie Theaterlandschaft im deutschsprachigen Raum zu geben, durch internationale Positionen: Im Großen Sendesaal des WDR feiert der mit Kölner und Berliner BürgerInnen im vergangenen Jahr gedrehte Film „Germany Year 2071“ des New Yorker Nature Theater of Oklahoma seine Weltpremiere. Das gleichnamige Hörspiel – eine Koproduktion mit dem WDR – wird bereits am Festivalvorabend urgesendet und ist der Auftakt einer Reihe von Radiohörspielen, die den Äther als weitere Impulse-Bühne bespielen.

In der großen Halle des Ringlokschuppen Ruhr in Mülheim untersucht derweil die britische Gruppe Stan’s Cafe humorvoll und durchdacht mit ihrer raumgreifenden, theatralen und doch nur aus Reiskornhügeln bestehenden Installation, auf welchen Grundlagen unsere Entscheidungen basieren. Hier sprechen Statistiken für sich selbst. Hügel neben Hügel repräsentiert jedes Korn einen Menschen: eine Landschaft, die die Welt bedeutet und die thematisch eng mit der Silent University Ruhr verbunden ist, jener autonomen Wissensplattform, die Impulse vor mittlerweile zwei Jahren in Mülheim initiiert hat. Alle Lehrenden sind geflüchtete AkademikerInnen , die hier – wegen fehlender Arbeitserlaubnis, nicht anerkannter Diplome oder anderer Umstände – ihr Wissen ansonsten nicht mehr weitergeben könnten.

In Düsseldorf nimmt „Delicate Instruments of Engagement“ als fortwährende performative Aktion und lebendige Ausstellung rund dreißig Jahre nach Joseph Beuys’ Tod ihren Ausgang im Erbe der Stadt als historischem Ort der Grenzüberschreitung von Kunst und Politik. Gemeinsam mit fünf PerformerInnen entfaltet Alexandra Pirici, eine der erfolgreichsten Choreografinnen ihrer Generation, eine Landschaft aus Gesten, Bildern und Momenten und mischt in den Räumen der Düsseldorfer Kunsthalle sowie des Kunstvereins ikonische und weniger bekannte Bilder und Ereignisse, popkulturelle und politische Gesten: Ceaușescus Hinrichtung, Pussy Riots „Punk-Gebet“ in Moskau, Joseph Beuys’ japanische Whisky-Werbung, die ihm half, seine „7000 Eichen“ für die documenta zu finanzieren.

In Gesprächen, Vorträgen, Arbeitstreffen, vor allem aber bei der Impulse-Konferenz am letzten Tag adressieren KünstlerInnen, TheoretikerInnen, AktivistInnen, die großenteils dem Festival auf unterschiedliche Weise bereits länger verbunden sind, nochmals ganz direkt die Frage, was für Entscheidungen wir überhaupt treffen dürfen und sollten. Chantal Mouffe, die als Politikphilosophin unsere Überlegungen in den letzten Jahren stark geprägt hat, wird ebenso zu Gast sein wie Antanas Mockus, legendärer ehemaliger Bürgermeister von Bogotá, dessen Arbeit und Glaube an die Kraft einer aktiven Zivilgesellschaft noch immer bewegend und motivierend sind.

Während also die meisten Impulse-Arbeiten einen sehr direkten Blick auf unsere Gesellschaft und ihre Probleme werfen, zieht sich das Festivalzentrum – entworfen von Richard Lowdon, Gründungsmitglied, Performer und Bühnenbildner der legendären Theatergruppe Forced Entertainment – in der studiobühneköln bewusst zurück: „Sideshow“ ist eine Bar, eine Bühne, ein wunderbarer Garten. Benannt nach den englischen Volks- und Gemeindefesten, bei denen kleine Attraktionen und die richtigen Getränke feilgeboten werden, gibt es auf diesem Nebenschauplatz Performances, Konzerte, Diskussionen und was sonst noch so dazugehört. Wir freuen uns darauf, Sie nach den Vorstellungen an der Bar zu treffen, wenn die wichtigen Dinge in den Mittelpunkt rücken, nämlich die unwichtigen.

Nach fünf Jahren, vier Ausgaben und einer grundlegenden Umstrukturierung des Festivals, das nun jährlich in drei Städten stattfindet, wechseln nach diesem Festival turnusgemäß Team und künstlerische Leitung. Wir bedanken uns sehr herzlich bei allen PartnerInnen und FördererInnen, vor allem aber natürlich bei all den KünstlerInnen und ZuschauerInnen für die gemeinsame Zeit! Im nächsten Jahr stehen dann andere FestivalmacherInnen an der Theke – und das alte Team kommt einfach nur auf ein Bier vorbei.